Kommentar:Raus aus der Dogma-Bude

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Alexander Hagelüken hat noch keine Prognose abgegeben. Das überlässt er lieber anderen. (Foto: Illustration: Bernd Schifferdecker)

Die Wirtschaftsweisen präsentieren der Regierung unterschiedliche Wege, Investitionen und Schulden unter einen Hut zu bringen. Damit findet der Rat aus der neoliberalen Sackgasse.

Von Alexander Hagelüken

Manchmal sind es Zufälle, die den Lauf der Geschichte beschleunigen. Die alte Bundesregierung konnte sich Anfang des Jahres nicht auf den fünften Posten im Sachverständigenrat einigen. Deshalb legen die sogenannten Wirtschaftsweisen ihr Jahresgutachten an diesem Mittwoch nur zu viert vor. Und dabei passiert, was zahlenmäßig bei vier Ökonomen möglich ist: Es gibt bei zentralen Fragen wie Schulden und Investitionen ein Patt. Das ist aber kein Betriebsunfall. Der Sachverständigenrat präsentiert sich damit offener als bisher - endlich.

Seit Dekaden war das Gremium fest in der Hand von Wissenschaftlern, die marktliberal argumentieren. Das hat in einigen Fragen seine Berechtigung. Ohne Wettbewerb erschlaffen Unternehmen. Und wenn der Staat zu sehr in die Wirtschaft eingreift, bremst er Innovationen und Wachstum. Nicht zuletzt die Finanzkrise 2008 hat aber bewiesen, was Marktliberalismus anrichtet, wenn er zum neoliberalen Dogma gerinnt: Banken (und andere Branchen) brauchen gesetzliche Kontrolle, sonst maximieren sie Gewinne auf Kosten der Gesellschaft und lassen die Weltwirtschaft abstürzen.

Wie dogmatisch der Sachverständigenrat bisher argumentierte, zeigte sich bei der Einführung des Mindestlohns 2015. Die Forscher fanden, Löhne sollen sich am Markt entwickeln. Sie ignorierten, wie sich die Machtverhältnisse verändert haben. Heute zahlen nur halb so viele Arbeitgeber Tariflohn wie in den 1990er-Jahren. Ein Mindestlohn verhindert die Ausbeutung von Millionen Beschäftigten. Die Wirtschaftsweisen waren unbeeindruckt. Manche verstiegen sich zu der Prognose, der gesetzliche Mindestlohn koste Hunderttausende Jobs. Die Realität demonstrierte ihren Irrtum eindrucksvoll.

Es ist deshalb ein gutes Zeichen, dass der Rat in seinem neuen Gutachten nicht nur die alten Platten auflegt, wenn es um die Politik der möglichen neuen Bundesregierung geht. Im Ampel-Trio suchen vor allem SPD und Grüne nach Spielräumen für Investitionen in die Zukunft. Sie können nun aus zwei unterschiedlichen Empfehlungen wählen.

Fiskalpolitik wird fragwürdig, wenn sie zum Dogma gerinnt

Die Wirtschaftsweisen Veronika Grimm und Volker Wieland fordern Ausgabendisziplin und betonen, private Investitionen hätten Vorrang. Diese Position hat durchaus etwas für sich. Weil deutsche Regierungen traditionell Schulden begrenzen, konnten sie sich der Finanz- wie der Corona-Krise ohne Hilfe von außen entgegenstemmen. Allerdings wird Fiskaldisziplin fragwürdig, wenn sie zum Dogma gerinnt.

So wie unter Bundeskanzlerin Angela Merkel, die den ausgeglichenen Haushalt der schwarzen Null zum Kern ihrer (bescheidenen) wirtschaftspolitischen Bilanz erhob. Merkel hat das Land kaputtgespart. Schulen und Verkehrsmittel sind in beklagenswertem Zustand. Mit seiner Unter-Digitalisierung gab sich Deutschland spätestens in der Pandemie der Lächerlichkeit preis.

Es wäre gut, wenn die Ampel es anders machte. Wie das gehen könnte, erfahren die Koalitionäre von den anderen beiden Wirtschaftsweisen Monika Schnitzer und Achim Truger. Sie stellen heraus, dass der Staat mehr in Bildung, Digitalisierung und Klimaschutz investieren sollte - und dass es ökonomisch sinnvoll sein kann, sich dafür zu verschulden. Und sie beschreiben, wie das etwa mit Investitionsgesellschaften außerhalb der Schuldenbremse möglich ist, wenn die sich schon nicht so schnell reformieren lässt.

Es ist gut, dass sich die Pluralität im Gutachten niederschlägt

Aber wirkt es nicht seltsam, dass die Sachverständigen kein Einheitsvotum abgeben wie früher? Nein. Viele deutsche Ökonomen sinnieren gerade, wie sich der Investitionsstau auflösen lässt. Ifo-Chef Clemens Fuest, sonst Anwalt der Etatdisziplin, lotet finanzielle Spielräume aus. So gegensätzliche Forscher wie der marktliberale Lars Feld und der progressive Marcel Fratzscher präsentieren gemeinsam Vorschläge. Es ist gut, dass sich diese Pluralität im neuen Gutachten widerspiegelt.

Das zentrale Beratergremium der Regierung zeigt damit nur eine Offenheit, die längst nötig war. Angelsächsische Ökonomen mokieren sich über die deutsche Fixierung auf Sparregeln auch für Europa, die übrigens die Euro-Krise nicht verhinderten. Mit seinem neuen Gutachten ist der Sachverständigenrat relevanter geworden, als er zuvor als Dogma-Bude war.

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