Wirtschaft und Toleranz:"Wehe, du bist nicht auf Arbeit"

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"Corporate Identity, nimmt man es genau, bedeutet Leibeigenschaft." (Foto: Simon Dawson/Bloomberg)

Ist eine tolerante Gesellschaft gut für das Wirtschaftswachstum? Wenn ja - warum ist dann die Wirtschaft selbst so intolerant? Ein Gespräch mit dem Wirtschaftsphilosophen Wolf Dieter Enkelmann über Toleranz, Wirtschaft, Konformitätszwang - und die Leibeigenschaft der Corporate Identity.

Von Hans von der Hagen

Schöne Vorstellung: Je offener, je toleranter, je vielseitiger eine Gesellschaft ist, desto besser geht es der Wirtschaft. Doch ist das wirklich so? Studien liefern kein einheitliches Bild. Doch der Wirtschaftsphilosoph Wolf Dieter Enkelmann, der in München das Institut für Wirtschaftsgestaltung leitet, hat Antworten.

SZ.de: Herr Enkelmann, sind Sie tolerant?

Wolf Dieter Enkelmann: So simpel und ohne Objekt formuliert: ja, unbedingt. Aber der Begriff Toleranz ist nicht wahllos und pauschal. Gerade wenn man toleriert, heißt das auch, dass man entschieden Nein sagen können muss.

Derzeit wird allerdings in vielen Ländern dieser Welt nur Nein gesagt - von Toleranz redet da keiner ...

Sie gründet eben in dem Phänomen, dass wir als bürgerliche Gesellschaft eine Gemeinschaft Fremder sind. Wir sind es gewohnt, uns in dieser Gemeinschaft miteinander abzufinden. In Familienkulturen oder Stammesgesellschaften, wie es sie in vielen Teilen der Welt noch immer gibt, ist das nicht so. In Ländern wie Afghanistan, aber im Grunde auch Japan, gilt das patriarchale Gesetz. Das ist gleichbedeutend mit einer grundlegenden Intoleranz, die aber in diesen Gesellschaften als Toleranz gegenüber der Familie verstanden wird. In den meisten Ländern wird kaum jemand etwas mit dem Begriff Toleranz anfangen können - auch wenn die Menschen dort natürlich genauso wie hier Nächstenliebe kennen und oft sehr gastfreundlich sind. Toleranz aber ist eine politische Kategorie, keine moralische.

Und nach Ansicht von Ökonomen auch eine wirtschaftliche: mehr Toleranz für mehr Wachstum.

Wobei es nicht möglich ist, Toleranz in Daten zu fassen. Es gibt Dinge, die man nicht empirisch erforschen kann. Das ist so eine intolerante Vorstellung der Statistiker, dass alles, was es gibt, sich empirisch ermitteln lässt. Doch das ist ein Chauvinismus und Theorieimperialismus sondergleichen. Toleranz ist ein geistiger Begriff, kein statistischer. In den Statistiken wird das oft ex negativo abgeleitet. Es wird also untersucht, in welchen Bereichen die Leute intolerant sind, etwa gegenüber Ausländern. Aber das ist methodologisch schwierig: Man will herausfinden, wie tolerant eine Gesellschaft ist, indem man misst, wie intolerant sie ist.

Dennoch fasziniert dieses Thema die Ökonomen. Selten etwa hat sich ein Stadtentwicklungskonzept so schnell verbreitet wie das von Richard Florida mit den drei Ts: Talente, Technologie und Toleranz. Ist die Stadt der Ort, an dem Toleranz am ehesten erfahrbar wird?

Stadtluft macht frei. Das heißt: Hier kannst du mit deinen Unterschieden sein. Du kannst angepasst oder eine schräge Type sein. In der Stadt ist Heterogenität die Gemeinschaftsform, wobei Heterogenität für mich der wissenschaftliche Ausdruck für Toleranz ist. Auf dem Land ist es nach wie vor die Homogenität, also letztlich das Familiäre. Wer sich als Fremder da nicht einfügt, hat schlechte Karten.

Was hilft denn der Wirtschaft eher - Heterogenität oder Homogenität?

Wolf Dieter Enkelmann (Foto: privat)

Instinktiv würden die meisten wohl sagen, Homogenität sei eigentlich das Richtige. Aber man muss sich nur das Beispiel Japan anschauen: Seit Jahrzehnten ist das Land in einer Depression. Das Land ist in der Wirtschaft zu sehr auf Homogenität bedacht. Doch Heterogenität ist unglaublich wichtig für wirtschaftlichen Erfolg. Genauso wie damit einhergehend die Fähigkeit, spekulativ offen lassen zu können, dass die Welt morgen vielleicht ganz anders aussieht als heute.

Wenn das urbane Prinzip Heterogenität ist - warum sehen dann die Innenstädte und die Menschen, die sich in ihnen bewegen, alle gleich aus?

Heterogenität ist zwar eine wichtige Triebfeder, aber zugleich wollen die Leute eben auch Geschäfte machen. Da kommt ökonomisch ein unglaublicher Konformitätszwang auf, der zu einer großen Gleichförmigkeit führt. Es geht bei der Toleranz nicht nur um das Verhältnis zu Ausländern, sondern zu allem, was uns fremd sein könnte. Das kann man schon erleben, wenn man mit Managern redet.

Völlig unterschiedliche Unternehmen, aber alle reden gleich. Wichtiger als alles andere ist es hier, den Stereotypen zu entsprechen. Wenn irgendetwas dann nicht in dieses Mind-set passt, interessiert es nicht. Darum schläft ein Manager, wenn er mit seiner Frau in den Kammerspielen sitzt, weil sie ihn dazu gezwungen hat, fast ein. Das, was auf der Bühne passiert, hat eben mit der Welt, auf die er eingenordet ist, nichts zu tun. Ein Begriff, der diesen Konformitätszwang exemplarisch symbolisiert, ist die sogenannte Corporate Identity. Sie soll die Identität eines Unternehmens definieren, auf die die Mitarbeiter eingeschworen werden sollen.

Meistens ist das ein kurzer Text, der früher an der Wand hing und heute vielleicht im Intranet steht - den aber kaum jemand wahrnimmt ...

Aber kein Mensch erschrickt darüber, obwohl Corporate Identity, nimmt man es genau, Leibeigenschaft bedeutet. Spräche man von Corporate Loyalty, würde das die Heterogenität integrieren. Corporate Identity hebt sie auf. Vom Inneren des Unternehmens bis zur Sprache gibt es in der Wirtschaft einen enormen Konformitätszwang.

Warum empört Sie das so?

Weil es da intolerant wird. Weil dieser Konformitätszwang homogenisierend wirkt. Nehmen Sie zum Beispiel den Begriff der Arbeit. Jeder arbeitet heute. Außer jenen, die keine Arbeit bekommen, und jenen, die nicht mehr arbeiten müssen, weil sie alt oder zu reich sind. Die Gesellschaft tut sich mit diesen Gruppen schwer, weil sie mit ihnen nichts anfangen kann. Dazwischen arbeitet alles: der Chef, der Angestellte, selbst das Kapital des Investors. Der Arbeitsbegriff verseucht einfach alles: Da ist von Trauerarbeit die Rede und von Beziehungsarbeit. Wehe, du bist nicht auf Arbeit. Dann bist du raus. Alles, was real ist, ist durch Arbeit vermittelt. Ohne Arbeit, und das heißt auch: ohne Kaufkraft, geht nichts mehr - und den Leuten, die im kapitalistischen Wettbewerb nicht mithalten können, schlägt die nackte Intoleranz entgegen. Wo kommen die denn eigentlich noch vor? Die Künstler etwa? Für die werden dann bestenfalls noch Sonderbereiche geschaffen, kulturelle Zoos, Museen, weil man ahnt, dass dieses Kulturgut irgendetwas wert sein könnte.

Die Kurzformel lautet also: Wirtschaft profitiert von Heterogenität und Toleranz, aber je mehr sie das tut, desto intoleranter wird sie?

Ja, den Eindruck kann man manchmal schon gewinnen. Und das ist absurd. Der wirtschaftliche Erfolg von Heterogenität und Toleranz bemisst sich irgendwann im Bruttoinlandsprodukt. Aber es gehört eben auch zur Ökonomie, dass am Ende etwas Menschenwürdiges dabei rauskommt. Und ich würde sogar noch weitergehen: Es darf nicht nur um das gute Geschäft und tolle Dinge gehen, sondern um die Frage: Kommen dabei ein Weltgefüge und erkennbare und tolerierbare Individuen heraus, die die ganze Geschäftemacherei wert sind? Oder zählt am Ende nur der Ge- und Verbrauchswert der Produzenten und der Konsumenten oder der Ressourcen? Ökonomie ist eben immer auch Kultur, eine politische Ökonomie. Milton Friedman hat gesagt: Wahrheit ist nicht Thema der Wirtschaftswissenschaften. Stattdessen geht es um Nutzen und Effektivität.

Weiß es die Wirtschaftsphilosophie besser?

Als Wirtschaftsphilosoph muss ich sagen: Ihr kommt da nicht raus, Freunde. Ihr arbeitet immer auch an der Bewahrheitung der Welt. Alles, was etwa an Technik erfunden wird, erzählt doch etwas über die Natur der Welt. Desgleichen, wie wir global unsere Beziehungen organisieren und was uns alles einfällt, um unser Dasein zu erwirtschaften. Die Schlussbilanz unserer Epoche ist ja noch nicht erstellt. Noch weiß keiner, in welchem Ausmaß wir uns wirklich belogen oder womöglich insgesamt nur eine große ökonomische Illusion betrieben haben.

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