Olaf Scholz macht Urlaub. Weit weg kann der Sozialdemokrat aber nicht sein, weil er an diesem Mittwoch in einer politischen Doppelrolle in Berlin unterwegs sein wird - und dazu, wie man hört, ökologisch korrekt anreist. Um 9.30 Uhr wird er, als Vizekanzler, die Sitzung des Bundeskabinetts leiten. Die Chefin ist auch im Urlaub, da darf Scholz ihren Job übernehmen. Um 16 Uhr soll er, dann als Bundesfinanzminister, auf einer Sondersitzung des Finanzausschusses im Bundestag erklären, wieso er den mutmaßlichen Bilanzbetrug des Dax-Konzerns Wirecard nicht frühzeitig zur Chefsache gemacht hat. "Grillen" nennt die Opposition so eine Befragung.
Für Scholz ist dieser Mittwoch kein ganz unbedeutender Tag in seiner Karriere. Nur, wenn er als engagierter Aufklärer überzeugt, bleibt ihm die, zugestanden ziemlich geringe Restchance von Ende 2021 an dauerhaft das zu tun, was er am Mittwochmorgen vertretungsweise tut: die Bundesregierung zu leiten. Und das natürlich auch nur, falls die SPD ihn als Kanzlerkandidaten nominiert und dann genug Bürger im Herbst 2021 die SPD wählen.
Renommierte Wirtschaftsprüfer haben bis 2018 saubere Testate ausgestellt
Die Gesetze, die das Bundeskabinett unter seiner Regie beschließen soll, könnten dem Vorhaben jedenfalls zuträglich sein: Man will Werkverträge in der Fleischverarbeitungsbranche für nicht mehr zulässig erklären und das Familienentlastungsgesetz mit der Kindergelderhöhung verabschieden. Womöglich wird man auch ein Gesetz zur Risikoreduzierung auf dem Finanzmarkt beschließen, das könnte Scholz später gegenüber den misstrauischen Abgeordneten im Finanzausschuss zur Entlastung einstreuen.
Eine ganze Stunde ist in diesem Gremium für ihn reserviert. Ein Statement, dann Fragen. Wobei, wenn man ernst nimmt, was bis Dienstag eingereicht wurde, müsste die Befragung einige Tage dauern. Allein 89 Fragen von den Grünen. 22 Seiten Fragen, nicht nummeriert, von der FDP. Die Linken haben sich auf sieben beschränkt, aber noch einige parlamentarische Anfragen gestellt, direkt an die Ministerien.
Die Menge entspricht dem Anlass. Die Wirecard AG, Dax-Konzern mit Sitz in Bayern, hat laut Münchner Staatsanwaltschaft mindestens seit 2015 betrogen. Im Juni 2020 musste sie Luftbuchungen von knapp zwei Milliarden Euro einräumen und Insolvenz anmelden. Alle Aufsichtsinstanzen haben versagt. Der Schaden ist immens: bei den Anlegern, für die Regierung, für den Standort Deutschland.
Neben Scholz ist auch Peter Altmaier geladen. Der Wirtschaftsminister hat zwar nichts mit der Finanzaufsicht zu tun, aber mit der Aufsicht über Wirtschaftsprüfer. Im Falle Wirecard hatten die renommierten Prüfer von EY bis 2018 saubere Testate ausgestellt. Wie kann das passieren, wo es seit 2015 gewichtige Hinweise auf Betrügereien gegeben hat? Man will wissen, wie es zu diesem "systemischen Versagen der Wirtschaftsprüfer" kommen konnte, sagt der Grüne Danyal Bayaz. Auch Altmaier hat eine Stunde Zeit, sich zu erklären. Vorsichtshalber hat der Minister vorgewarnt: Er kann nicht ewig bleiben. Anschlusstermine. Dritter Befragter in der großen parlamentarischen Aufkläraktion soll ein Vertreter der inzwischen gekündigten Bilanzprüfer der DPR sein; er hat aber nur 30 Minuten zu überstehen.
Der Skandal bietet neben der Sachaufklärung viel Raum für Profilierung mit Blick auf die Bundestagswahl 2021. Die SPD wird versuchen, ihren potenziellen Kanzlerkandidaten aus der Schusslinie zu nehmen. Die CSU muss damit rechnen, erklären zu müssen, wieso der Freistaat Bayern sich zum Lobbyisten für Wirecard gemacht hat. Das Netz der bayerischen Helfer ist dicht gewebt. Die CDU muss aufklären - und verhindern, dass eine sozialdemokratische Reform der Aufsichtsregeln eigene Wähler verschreckt. Merkel hat sich persönlich für Wirecard eingesetzt, ihr wird die Sache kaum schaden. Aber was ist mit Wolfgang Schäuble und Jens Spahn, die 2015 als Minister und Staatssekretär zuständig waren?
Die FDP hat "große Neigung" zu einem Untersuchungsausschuss - die Grünen nicht ganz so
Grüne, Linke und FDP verfügen über die erforderliche Mehrheit, um einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss einzuberufen. Ob sie es tun werden? Die Bereitschaft ist umso höher, desto kleiner die Wahrscheinlichkeit ist, der nächsten Koalition anzugehören. Fabio De Masi, Vizefraktionschef der Linken im Bundestag, hat sich auf ein Ja zum Untersuchungsausschuss festgelegt. Er will, "dass die komplette regierungsinterne Kommunikation zu Wirecard offengelegt wird". Er will den vollständigen Bericht der Sonderprüfer von KPMG sehen, der angeblich nachweisen soll, dass die Finanzaufsicht Bafin über Verfehlungen bei der Kreditvergabe informiert war. Und er will wissen, ob die bei Scholz angesiedelte Finanzpolizei FIU früh "von prominenter Stelle" Hinweise auf Geldwäsche bekam. Problematisch sei, sagt De Masi, dass das Kanzleramt nicht eingeladen ist, obwohl es in den Skandal involviert sei.
Die FDP lässt "die große Neigung" erkennen, sich den Linken anzuschließen. Finanzexperte Florian Toncar hat gewichtige Argumente: Der größte Skandal der jüngeren Geschichte, höchste Regierungsvertreter hätten versagt. Bei den Grünen ist Wirecard Chefsache. "Wir stehen als Parteiführung in engem und regelmäßigem Austausch mit unseren Abgeordneten", sagt Co-Parteichef Robert Habeck der Süddeutschen Zeitung. Es obliege der Bundesregierung, "und zwar den damals wie den heute verantwortlichen Personen", Aufklärung im Fall Wirecard zu leisten. "Und zwar nicht nur aufzuklären, welche Versäumnisse es in den Aufsichtsbehörden mutmaßlich gegeben hat, sondern auch, warum das Finanzministerium selbst nicht früher tätig geworden ist." Habecks Hinweis geht klar in Richtung CDU, Schäuble und Spahn, die 2015 bis zur Bundestagswahl 2017 verantwortlich waren. Die Einrichtung eines Untersuchungsausschusses lässt er offen. Sie sei "dann angezeigt, wenn die offenen Fragen nicht anders zu beantworten sind oder die Bundesregierung mauert".