Was macht eigentlich ... Andreas Hettich?:"Das größere Statussymbol ist immer noch das Auto"

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Jeden Tag produziert seine Firma eine Million Scharniere: Familienunternehmer Andreas Hettich beliefert Küchenverkäufer - auch Ikea.

Interview von Elisabeth Dostert

Was machen Sie eigentlich?

Andreas Hettich: Wir machen Möbelbeschläge, also alles, was Möbel zusammenhält und in Bewegung bringt. Der Leiter unserer Entwicklungsabteilung hat das mal so formuliert: Wir produzieren das, was übrig bleibt, wenn die Küche abbrennt.

...weil die Beschläge aus Metall sind.

Genau.

Klingt nicht nach hoher Kunst.

Ist aber Hightech. Ein Beschlag ist höchste Präzision. Das merken sie spätestens, wenn die Schubladen und Türen in ihrer Küche haken. Als wir anfingen, uns Gedanken über eine Dämpfung zu machen, haben wir uns in der Autoindustrie umgesehen. Da kennt man das ja, Haltegriffe im Auto schließen sanft und leise. Wir haben den Autozulieferern dann erzählt, wie viel eine Schublade im Küchenschrank aushalten muss.

Wie viel denn?

80 Kilogramm.

Heißt?

Wenn ich eine Schublade zuwerfe, muss der Beschlag die Energie aushalten, die entsteht, wenn ich 80 Kilogramm bewege. Das ist eine ganze Menge. In jeder Führungsschiene sitzt ein kleiner Dämpfer, damit die Schublade leise schließt, egal mit welcher Kraft ich sie zuwerfe. Eine Schubkastenführung besteht aus mehr als 20 Teilen, das ist Hightech auf kleinstem Raum. Als wir den Autozulieferern erzählten, welche Stückzahlen wir brauchen, was die wie lange aushalten müssen und wie viel sie kosten dürfen, haben alle abgewunken.

Wie hoch sind denn die Stückzahlen?

Wir produzieren zum Beispiel jeden Tag eine Million Scharniere. Ein Scharnier muss 80 000 Zyklen aushalten, also auch nach 80 000 Mal öffnen und schließen muss das Teil noch funktionieren, egal ob die Küche am Nordpol steht oder in den Tropen.

Würdigt der Verbraucher diese Mühe?

Viele Funktionen fallen ihm schon auf, zum Beispiel gedämpfte Türen oder - unsere neueste Erfindung - ein Geschirrspülkorb, der sich nach oben ziehen lässt und damit leichter zu entladen ist. Solche Funktionen nimmt der Verbraucher war. Andere allerdings erst, wenn sie nicht mehr funktionieren und die Schublade klemmt oder die Tür schief auf den Scharnieren hängt. Aber es stimmt schon: Die große Mühe, die wir uns machen, damit alles läuft, sieht der Verbraucher nicht. Aber unsere direkten Kunden, die Hersteller von Küchen, Elektrogeräte und Möbel, die sehen sie schon.

Was war denn in den vergangenen drei Jahren Ihre größte Innovation?

Ich bin da immer etwas vorsichtig. Eine kleine Produktverbesserung ist keine Innovation. Eine echte Innovation muss schon zu einer bemerkenswerten Verbesserung führen. Die Lebenszyklen unserer Produkte sind ziemlich lang. Der größte technische Sprung in den vergangenen Jahrzehnten waren Scharniere, Schubkästen und Schiebetüren, in die Dämpfer schon eingebaut sind.

Ist denn der nach oben ausziehbare Geschirrspülkorb innovativ?

Das ist eine super Produktidee, aber noch keine Innovation. Für mich ist eine Innovation nur dann eine echte Innovation, wenn sie am Markt erfolgreich ist. Der Korb kommt erst nächstes Jahr auf den Markt.

Haben Sie den Eindruck, dass sich in den vergangenen Jahren auch unter dem Druck Ihrer Abnehmer die Innovationszyklen deutlich verkürzt haben?

Nein, es wird bloß viel mehr Wirbel um Detailverbesserungen gemacht. Kürzere Zyklen sind auch gar nicht so sinnvoll, der Verbraucher kauft doch ohnehin nicht jeden Tag ein Möbel. Und nur dann interessiert er sich dafür. Das hat die Autoindustrie besser gemacht. Viele Menschen interessieren sich für die neuen Modelle, auch wenn sie gar kein Auto kaufen wollen. Wenn ich alle fünf Jahre ein Auto kaufe, reicht es doch, wenn ich ein halbes Jahr vorher anfange, mir Gedanken darüber zu machen. Oder? Eine Küche wird im Schnitt nur knapp alle 20 Jahre ausgetauscht und nur dann interessieren sich die meisten Leute dafür. Für den Verbraucher ist doch dann sowieso alles neu, was sich in diesen 20 Jahren getan hat. Keiner kauft eine neue Küche, weil ein neues Feature drin steckt.

Dabei verbringen die Menschen vermutlich mehr Zeit in der Küche als im Auto. Was genau hat die Möbelindustrie falsch gemacht?

Das Auto vor dem Haus hat einen größeren Imageeffekt als die Küche im Haus. Das ändert sich nur langsam. Heute wird die Küche auch Verwandten und Freunden gezeigt, das war früher nicht so. Das größere Statussymbol ist immer noch das Auto. Ich fahre damit herum und zeige mich. Mit einem Auto lässt sich leichter angeben.

Was lief noch falsch?

Der Vertrieb von Möbel ist in Deutschland einigermaßen kurios.

Wie meinen Sie das?

Die Vertriebskette ist ziemlich lang, weit länger als die für Autos. Wir verkaufen unsere Beschläge an die Hersteller von Küchen, die verkaufen ihre Küchen an Einkaufsverbände, die wiederum an Möbelhändler und erst dann kommt der Verbraucher. Das einzige, was heute im Möbelhandel zählt, ist eine Prozentzahl: Rabatte. Der Handel möchte am liebsten austauschbare Lieferanten, der kauft heute bei Küchenhersteller A und morgen bei B, wer es eben am billigsten macht. Es gibt unheimlich wenige Küchenmarken.

Wie bitte!

Ich meine echte Marken, die der Kunde im Laden auch kennt, wie Bulthaup oder Poggenpohl. Die Masse ist ziemlich anonym. Die meisten Menschen wissen doch gar nicht, von welcher Marke ihre Küche kommt, aber sie können sagen, in welchem Möbelhaus sie die Küche gekauft haben. Im Ausland vermarkten die Hersteller stärker selbst, so lassen sich sehr viel mehr Themen transportieren.

Wann und wie konnte es dazu kommen, dass in Deutschland ein paar sehr große Händler und Verbände den Möbelmarkt beherrschen?

Das weiß ich gar nicht so genau. Das war vor meiner Zeit. Dass ein paar Händler so eine Macht aufbauen konnten, ist sicher auch eine unternehmerische Leistung. Verbände jeder Art, also auch Einkaufsverbände, sind eine sehr urdeutsche Erscheinung. Einige der großen Hersteller sind mit den Verbänden gewachsen. Andere sind vom Markt verschwunden. Früher bot auch fast jeder Hersteller von Elektrogeräten Küchenmöbel an, Miele hat dieses Geschäft erst vor einigen Jahren aufgegeben.

Wie viel von dieser Rabattschlacht kommt bei Ihnen an?

Auch wir spüren den Druck. Die Preise für Beschläge sind nicht signifikant gestiegen. Im Discount-Geschäft mit Küchenmobiliar werden häufig einfachere Beschläge eingesetzt.

Was kostet denn Ihr einfachstes und was Ihr teuerstes Scharnier?

Für den Küchenhersteller von 30 Cent bis fünf Euro.

In welcher Preislage verkaufen Sie die meisten?

Schon in den mittleren bis höheren Preislagen.

Beliefern Sie auch Ikea, den größten Küchenverkäufer?

Ja.

Kommt von den Größten der größte Druck?

Ja und nein. Die drücken zwar auf die Preise, nehmen aber auch die größten Mengen ab.

Wie hat Ihr Vater Ihnen die Firma schmackhaft gemacht?

Nicht direkt. Von meiner Ausbildung her war ich nicht für die Nachfolge prädestiniert. Ich bin Elektroingenieur und habe zu einem Mobilfunk-Thema promoviert. Als ich studierte, hatten wir allerdings auch noch einen Fremdgesellschafter in der Firma, die Familie Jahr...

...die Verleger?

Genau. Das hatte historische Gründe. In der Generation meines Vaters gab es 13 Gesellschafter, zehn sind dann ausgeschieden, deren Anteile hat die Familie Jahr übernommen. Mein Vater ist 40 Jahre älter als ich und ist Ende 1990 aus dem operativen Geschäft ausgeschieden und in den Beirat gewechselt. Seine beiden Brüder gingen bald darauf. Dann führten über viele Jahre familienfremde Manager die Geschäfte. Ende der 90er Jahre kamen dann die Jahrs auf uns zu, weil sie sich von allen verlagsfernen Beteiligungen trennen wollten, also auch von Hettich.

Wie hoch war ihr Anteil?

49 Prozent.

Nicht gerade wenig!

Ganz schön viel. Die Jahrs machten den Vorschlag, die Firma ganz zu verkaufen. Mein Vater hat dann angeboten, die Anteile zu übernehmen mit dem kleinen, aber nicht unwesentlichen Nebensatz, wenn eines seiner Kinder die Geschäftsführung übernimmt. Ich habe drei ältere Geschwister, die hatten kein Interesse. Ich habe dann in meinem jugendlichen Leichtsinn gesagt: Das interessiert mich. Ich war 30 Jahre alt, war im Schlussspurt meiner Promotion und arbeitete intensiv mit Forschungsabteilungen von großen Mobilfunkunternehmen zusammen. Das war teilweise extrem bürokratisch und zäh. Ich dachte, wenn ich Unternehmer bin, kann ich selbst entscheiden und gestalten ...

... ist das so?

Man hat schon Rahmenbedingungen, die einen einzwängen, aber im Großen und Ganzen ist das so.

Gehörte zu den Zwängen, dass Ihre Familie einen Kredit aufnehmen musste, um die Jahrs abzulösen? Es gibt Menschen, die empfinden Kredite als Last.

Ich habe das eher als Herausforderung gesehen.

Ist der Kredit schon getilgt.

Nein.

Geben Sie zu, Sie sind sentimental. Sie wollten das Lebenswerk Ihrer Vorfahren dann doch nicht verkaufen.

Ein bisschen war das wohl so. Hettich ist ein Familienunternehmen mit einer mehr als 125-jährigen Historie. Es ist aber nicht so, dass ich auf dem Firmengelände aufgewachsen bin. Klar hat mein Vater zuhause von der Firma erzählt, man war auch mal da, aber die Firma war bei weitem nicht so präsent wie das in anderen Familien der Fall ist. Es gibt doch den Spruch. Die erste Generation lebt im Unternehmen, die zweite nebenan und die dritte im nächsten Ort. So war das damals auch bei uns.

Heißt: Als Sie in die Firma einstiegen, hatten sie viel Ahnung von Mobilfunk, aber keine Ahnung von Beschlägen und Metallverarbeitung und schon gar nicht von Betriebswirtschaft? Würden Sie rückblickend sagen, dass diese Entscheidung auch naiv war?

Ja und nein. Ich bin sicher sehr unbefangen an die Sache ran gegangen, vielleicht auch ein wenig blauäugig. Ich habe mich auf meinen gesunden Menschenverstand verlassen und mit Zahlen konnte ich schon immer gut umgehen. Ich kann in einem Wust von Zahlen relativ schnell erkennen, was nicht zusammenpasst. Elektrotechnik ist auch Mathematik und Systemverständnis. Hettich ist kein Hexenwerk und keine Raketentechnik. Man muss nicht auf allen Feldern Experte sein, um eine Firma zu führen.

Haben Sie damals Vorbehalte in der Belegschaft gegen Sie gespürt?

Nein. Das heißt aber nicht, dass es die nicht gab. Ich bin aber auch nicht hingegangen und habe meinen Mitarbeitern gesagt, was jetzt passieren muss. Ich habe mir alles angesehen und angehört.

Was missfiel Ihnen?

Ich habe mich eher auf das konzentriert, was kommt - auf die Zukunft. Ich habe verschiedene Projekte angestoßen, eines davon war unser Werk in Brasilien. Das haben wir dann verkauft wegen nachhaltigen Misserfolgs. Das war im Nachhinein gut so.

Aber das haben Sie nicht verbockt, sondern Ihre Vorgänger?

Aber mir ist es auch nicht gelungen, dort aufzuräumen, sonst hätten wir das Werk noch. Das war sehr lehrreich.

Wann dachten Sie zum ersten Mal, jetzt kehrt eine gewisse positive Routine ein?

Routine? Weiß ich nicht, vielleicht eher Gelassenheit. Ich kam im Jahr 2000 in die Firma, 2005 kam ich in die Geschäftsleitung, deren Vorsitz ich dann zwei Jahre später übernommen habe. Darauf habe ich auch gedrängt. Von da an stellte sich eine Art Gelassenheit ein. Die große Bewährungsprobe kam dann ein Jahr später, 2008/2009 mit dem Einbruch der Weltwirtschaft. Das war schon ein Schock, weil fast alle Märkte gleichzeitig einbrachen. Wir mussten Kurzarbeit einführen, Kosten senken. Aber wir mussten niemanden entlassen. Es gab auch positive Effekte, die Rohstoffpreise für Metalle sanken. In Zeiten der Hochkonjunktur ist das genau umgekehrt. Wir haben gemerkt, dass wir auch schwere Krisen meistern können.

Jetzt kann Sie nichts mehr schrecken?

Genau. Ich bin mir zwar der Risiken bewusst, aber ich fürchte mich vor nichts.

Wirklich? Auch nicht davor, dass Ihnen mal die Ideen ausgehen?

Nein. Ideen haben wir jede Menge. Wir sind weder von einzelnen Lieferanten, noch von einzelnen Kunden, noch von einzelnen Regionen abhängig. Deutschland ist zwar nach wie vor unser größter Markt, aber dann gibt es viele mit einem ähnlichen Geschäftsvolumen. Wenn da einer einbricht, wie jetzt Russland, wirft uns das nicht um.

Wer ist denn Ihr größter Abnehmer?

Die Küchenhersteller. Vom Anteil am Möbel stecken allerdings die meisten Beschläge in Büromöbeln. Da sind wir allerdings vor allem in Westeuropa tätig.

Warum?

Das liegt unter anderem an der Papiernorm. In Westeuropa orientieren sich alle am DIN A4-Format, in den USA ist das schon wieder anders. Das ist mittlerweile ziemlich schwachsinnig, weil wegen der Digitalisierung immer weniger Papier in den Büromöbeln landet.

Sind denn Küchen weltweit gleich?

Von der Grundkonstruktion schon, abgesehen von den USA. Die bauen Möbel anders. In Europa werden eher Kästen gebaut: zwei Seiten, Boden, Deckel, Rückwand, Tür. Daher der Fachbegriff Kastenmöbel. In den USA dominieren Rahmenkonstruktionen, also eine Art Einbauschrank. Küchen sind in den USA fest ins Haus eingebaut. Das gibt es nur in Deutschland, dass sie eine Wohnung ohne Küche mieten können.

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