Verletzte Siemens Infopflicht?:Wenn die Frist nie läuft

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Grundsatzurteil erwartet: Das Bundesarbeitsgericht entscheidet, ob Siemens beim Verkauf der Handy-Sparte an BenQ Wichtiges verschwiegen hat.

D. Kuhr

Als die Rechtsexperten von Siemens das Urteil lasen, dürften sie sich ziemlich geärgert haben. Die Vorwürfe, die das Landesarbeitsgericht München im April vergangenen Jahres erhob, kommen einer Ohrfeige gleich: Beim Verkauf der angeschlagenen Handy-Sparte an den taiwanesischen Konzern BenQ im Herbst 2005 habe Siemens die betroffenen 3000 Mitarbeiter falsch informiert, stellten die Richter fest.

Ausverkauf von BenQ-Handys: Informierte Siemens ausreichend als es seine Handysparte an den taiwanesischen Hersteller verkaufte? (Foto: Foto: dpa)

Das Informationsschreiben des Konzerns sei "nahezu evident fehlerhaft, weil in wesentlichen Teilen unvollständig". An diesem Donnerstag entscheidet das Bundesarbeitsgericht (BAG) über den Fall.

Für Siemens selbst sind die unmittelbaren Folgen überschaubar. Es geht zunächst um sechs Mitarbeiter, die verlangen, von dem Konzern weiterbeschäftigt zu werden; rund 50 weitere haben noch geklagt.

Weit über den Fall

Siemens

hinaus bedeutsam

Doch nach Ansicht von Juristen wird das Urteil weit über den Fall Siemens hinaus bedeutsam sein - und zwar für Arbeitgeber wie auch Arbeitnehmer. Womöglich müssen Unternehmen, die Sparten verkaufen, ihre Mitarbeiter künftig über viel mehr informieren, als sie dachten. Und womöglich können sich künftig Arbeitnehmer deutlich öfter und länger gegen "ihren Verkauf" wehren.

Siemens hatte seine Handy-Sparte zum 1. Oktober 2005 an den taiwanesischen Konzern BenQ verkauft. Für die Mitarbeiter bedeutet so ein Verkauf, dass sie von diesem Zeitpunkt an bei dem neuen Unternehmen, in diesem Fall also BenQ, angestellt sind - mit allen Rechten und Pflichten wie bisher.

Passt ihnen das nicht, können sie innerhalb von vier Wochen widersprechen. Doch damit sie überhaupt beurteilen können, ob sie dafür oder dagegen sind, muss der alte oder der neue Arbeitgeber sie informieren: über den Zeitpunkt des Übergangs, den Grund, die rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen für den Arbeitnehmer sowie die in Aussicht genommenen Maßnahmen. So steht es im Gesetz.

Widerspruchsfrist von vier Wochen

Ende August 2005 verschickte Siemens daher ein Schreiben: Darin hieß es, die Handy-Sparte werde verkauft. BenQ setze mit dem Erwerb "ehrgeizige internationale Expansionspläne" um und werde "in den nächsten Jahren zu einem führenden globalen Anbieter". Innerhalb von vier Wochen könnten die Arbeitnehmer widersprechen. Dann würden sie bei Siemens verbleiben, müssten aber mit einer betriebsbedingten Kündigung rechnen, weil ihre Arbeitsplätze entfallen seien. Wen wundert es? So gut wie niemand widersprach.

Ein Jahr später aber, am 29. September 2006, stellte die deutsche BenQ-Tochter Insolvenzantrag. Und prompt gingen die Widersprüche diverser Mitarbeiter ein. "Zu spät", sagte man bei Siemens, die vierwöchige Frist sei längst abgelaufen. "Stimmt nicht", sagten die Betroffenen. Die Frist habe nie zu laufen begonnen, weil Siemens von Anfang an unkorrekt informiert habe. Das sahen auch die Richter der unteren Instanzen so.

Siemens habe mit keinem Wort erwähnt, dass der neue Arbeitgeber, der immerhin 3000 Mitarbeiter übernahm, gerade einmal ein Haftungskapital von 50.000 Euro besaß, kritisierte das Landesarbeitsgericht München (LAG). Genauso wenig habe Siemens erwähnt, dass man BenQ "als Mitgift" einen dreistelligen Millionenbetrag für die Übernahme zahlte - alles Umstände, die das Gericht für "atypisch und bemerkenswert" hielt. Und schließlich habe Siemens nicht erklärt, warum sich das Unternehmen überhaupt von der Handy-Sparte trennt. Auch fehlte ein Hinweis darauf, ob durch den Übergang eventuell neue Tarifverträge greifen.

Rechtssicherheit

"Das Urteil des BAG wird von enormer Wichtigkeit sein, weil es die Anforderungen an ein wirksames Unterrichtungsschreiben bei einem Betriebsübergang klarstellen wird", sagt Frank Achilles, Arbeitsrechtexperte bei der Münchner Kanzlei Heisse Kursawe Eversheds.

Bei Siemens sieht man das genau so. "Wir werden die Entscheidung in jedem Fall gutheißen, weil sie Rechtssicherheit bringt für Informationsschreiben an Mitarbeiter bei Betriebsübergängen", sagt ein Sprecher des Konzerns.

Nach Ansicht von Gewerkschaftern ist der Fall aber noch aus einem weiteren Grund bedeutsam: "Das BAG kann klarstellen, ob der Arbeitnehmer mit dem Abschluss eines Aufhebungsvertrags sein Widerspruchsrecht ein für alle Mal verwirkt", sagt Isabel Eder, Arbeitsrechts-Expertin beim Deutschen Gewerkschaftsbund.

Denn einer der Kläger hatte zwei Monate vor dem Insolvenzantrag einen Aufhebungsvertrag mit BenQ geschlossen. Er sah eine Abfindung von 62.000 Euro vor. Siemens behauptet, man habe deshalb darauf vertraut, dass er keinen Widerspruch mehr einlegen werde. Doch beim LAG wies man das zurück. Wer so unvollständig informiere, genieße keinen Vertrauensschutz, entschieden die Richter. Sollte das BAG das bestätigen, wäre das nach Ansicht des Münchner Anwalts Johannes Falch "wegweisend" für zahlreiche weitere Fälle.

© SZ vom 23.07.2009/pak - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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