Twitter-Lob:Kleines Fenster zur großen Welt

Lesezeit: 8 Min.

Noch skeptisch, ob Sie Twitter nutzen sollen? Lesen Sie einfach mal diesen Text (Foto: Getty Images)

Sie sind nicht auf Twitter? Dann wird's aber Zeit. Denn die Plattform ist keine sinnlose Quasselbude. Eine Verteidigung in 14.124 Zeichen.

Von Alex Rühle

Jetzt, so kurz nach der Wahl, wäre doch ein guter Moment, um mal wieder so richtig aufs Internet einzudreschen. Schließlich sind da drinnen all diese Nichtwähler und Nihilisten unterwegs, verantwortungsloses Gesindel. Das ist kein Wunder, denn man wird dumm im Netz, siehe Twitter, dieser digitale Schredder. Stand so in der FAZ, am Tag nach der Wahl. Und sogar die Piraten sagen jetzt, dass sie im Netz auf dem Holzweg waren, weil: Wähler findet man da ja doch nicht.

Auf die Piraten könnten wir gleich auch noch draufhauen, diese digitalen Klapskallis. Erinnert sich überhaupt noch jemand an die? Das war diese Partei, die ein paar Jahre lang als Politkindergarten galt, um dann, 2011, plötzlich das Berliner Abgeordnetenhaus zu stürmen. Mit einem Mal merkten die übrigen Parteien, dass das Internet wohl doch mehr zu sein scheint als bisschen Youtube und Paradies für Raubkopierer. Einige Politiker der Volksparteien legten sich einen Twitteraccount zu, was bedeutete, dass sie ungelenke Mitteilungen ins digitale Dunkel schickten, aus dem Gelächter zurückschallte. Die Piraten waren hip und Zeitgeist, twitterten aus Politshows, sagten, sie wüssten auch nicht, wie man's macht, aber so wie jetzt sei's ja wohl doof, und enterten vier Länderparlamente. Die Frage war damals nur, ob sie nun zehn oder 20 Prozent bekommen.

Tja. Zwei Prozent.

Ein so grausames Desaster, dass es am Wahlabend im Fernsehen kaum jemand mitbekam. Die Piraten verschwanden im grauen Balken der "Anderen", und warum sollte man von der Wahlparty einer Splitterpartei übertragen?

Das Netz aber trug an diesem Abend Trauer. Der Geisteswissenschaftler und Blogger Michael Seemann resümierte resigniert: "Unsere Diskurse, unsere Belange kamen bei dieser Wahl nicht vor, nicht im Geringsten. Vermutlich hatte der Deutsche Ruderverein einen größeren Impact auf die Wahl als die Netzgemeinde." Der Pirat Christopher Lauer postete eine Art Grundsatzpapier zur Neuausrichtung seiner Partei. Immer wieder kam dabei ein Punkt zur Sprache, den man in einer Frage zusammenfassen kann: Wir waren so laut auf Twitter, warum hat uns draußen keiner gehört? In seinen Worten: "Klar ist Twitter nett, klar sind soziale Medien nett. Aber sie sind nicht die Welt. Es geht so viel Kraft, Zeit, Motivation, Energie drauf, auf Twitter oder sonstwo im Netz gegen Windmühlen zu kämpfen, lasst uns lieber was Echtes machen, was man anderen zeigen kann und was auch außerhalb unserer Social-Media-Filterblase wahrgenommen wird."

Twitter auf der einen Seite, "was Echtes" und "die Welt" auf der anderen, das ist harter Tobak aus dem Munde eines Politikers der Partei, die bisher so klang, als würde sie am liebsten mit Kind und Kegel ins Internet migrieren. Und es ist Wasser auf die Mühlen all jener, die noch immer denken, Twitter und die sozialen Medien seien nur eine Schwatzbude für Narzissten mit ADHS. Ein in seinem grellen Schwarz-Weiß geradezu bizarres, aber ganz typisches Bild zeichnete die FAZ in dem schon erwähnten Text nach der Wahl. Der Medienredakteur Michael Hanfeld hatte am Sonntagabend wohl bei Twitter reingeschaut und wendete sich nun angewidert ab: nur Randalierer, "die Motzkis dieser Republik", die im Netz in ihrer Filterblase leben und sich so immer weiter von der Wirklichkeit entfernen: "Wir haben es seit Monaten mit einer Online-Ökologie zu tun, die mit den wahren Stimmungen in diesem Land auch nicht ansatzweise übereinstimmt. In den Netzwerken schweigen die Wähler." Hier die apolitischen Digitaldeppen und radikalisierten Randgruppenexistenzen, dort aktive Bürger und verantwortungsbewusste Wähler: "Zum Glück leben wir nicht in einer Klick-Demokratie, in der sich eine laut mosernde Peergroup an die Macht schwätzt. Eine oft genug nichts als peinliche Minderheit bläst sich auf, die Mehrheit aber schweigt und - wählt."

Nun passt das zwar wunderbar zur allseits gern ventilierten These von der sogenannten Filter Bubble, aber es ist doch, gerade was Twitter angeht, derart scharf überzeichnet, dass es sich lohnt, hier innezuhalten. Lassen wir also die Piraten in ihrem Elend vorerst alleine und gucken tatsächlich mal bei Twitter rein.

Von außen nämlich sieht dieser Internetdienst völlig anders aus als von innen. Wer mal auf einer der großen Nachrichtenseiten war und dort bei einem Großereignis wie dem Champions-League-Finale oder eben der Bundestagswahl einem sogenannten Twitterfeed folgte, wird sich kopfschüttelnd abgewendet haben und allen erklären: Ich hab mir das jetzt mal angeschaut, kriegste Augenkrebs von, reinstes Textstroboskop, als ob dein Hirn durch'n Häcksler geschoben wird. Und 140 Zeichen? Klopstock brauchte für jede seiner Oden drei Seiten, und die wollen mir die Welt in einem Stummelsatz erklären?! Wenn das nicht das Ende der Kulturgeschichte ist, weiß ich auch nicht mehr weiter.

Von außen gesehen mag das stimmen. Schließlich rauschen bei solchen Feeds unterschiedslos alle Tweets hintereinander weg, die mit einem sogenannten Hashtag versehen sind: Wer etwas auf Twitter schreibt, kann das Ganze mit einem Schlagwort oder Kürzel versehen, dem er das Rautezeichen voranstellt. #btw13 war das Hauptsammelbecken für alle Tweets zur Bundestagswahl 2013. Da läuft dann tatsächlich alles wild durcheinander, Witze, Kommentare, Links, grölender AfD-Jubel, Merkelkalauer, Pöbeleien gegen die FDP.

Jemand verlinkt blöden Quatsch? Wegklicken!

Der Witz ist nur: Wer selber auf Twitter angemeldet ist, nimmt den Internetdienst völlig anders wahr. Und zwar nicht, weil er oder sie von Twitter selbst schon lobotomisiert wäre. Es ist eher so: Von außen auf Twitter zu schauen, das ist, als würde man bei einer Universität das Dach abnehmen und von oben reinschauen - meine Güte, wird da durcheinandergequasselt. Als Student aber sucht man sich ja nacheinander seine Professoren, hört sich an, was sie in ihren Räumen jeweils zu sagen haben, schreibt mit, legt sich mit ihnen an oder geht dann weiter.

Wer sich auf Twitter anmeldet, der folgt dort anderen Twitterern. Jemandem zu folgen heißt, dass man jedes Mal, wenn derjenige auf einen lesenswerten Text verlinkt, ein Foto hochlädt oder selbst etwas schreibt, diesen Tweet zu sehen bekommt. So stellt man sich sein individuelles Menü zusammen, sucht sich interessante Leute aus und schaut, was die alle so treiben, schreiben und finden im Netz. Das Bild mit der Uni und den Vorlesungssälen stimmt schon deshalb nicht, weil man nicht als stummer Student da drinsitzt und staunend mitschreibt, man ist Teil des Ganzen, schreibt selber Tweets, verlinkt auf Texte oder streitet sich rum. Man kann auch Zeitungen, Institutionen, Parteien folgen und sieht dann jeweils, was für Texte, Paper, Thesen sie gerade veröffentlichen, alles in menschengemachtem Tempo und nicht als wildes Sperrfeuerwerk.

Klar folgt man dabei immer wieder geschwätzigen Narzissten oder Leuten, die nur auf blöden Quatsch verlinken. Na und. Ein Klick, und man muss das Zeug dieser Menschen nie mehr lesen.

Ha!, rufen da wieder andere Kritiker. Erwischt! Sie wollen eben nicht sehen, was Leute schreiben, die anders denken! Sie blenden alles aus, was Ihnen nicht in Ihre Weltanschauung passt. Fragmentierung der Öffentlichkeit. Verlust allen gemeinsamen Horizonts. Hat der amerikanische Informatiker Nicholas Negroponte ja schon Mitte der Neunzigerjahre vor gewarnt.

Ja, ist richtig. Und Eli Pariser hat das in Zeiten der sozialen Netzwerke neu formuliert, indem er vor der Filter Bubble warnte. Der amerikanische Netzaktivist umschrieb damit das Phänomen, dass Firmen wie Google einem dank ihrer immer verfeinerter arbeitenden Algorithmen auch immer passgenauere Vorschläge machen. "Kunden, die dieses Buch kauften, kauften auch . . ." Bei jedem Klick, den wir machen, werden Cookies installiert, die uns heimlich zusehen bei unseren Wanderungen durchs Netz und konstruieren so ein immer genaueres Bild von unserem Online-Ich. Immer mehr Daten werden dann an Werbekunden verkauft, die uns beeindruckend passgenaue Angebote unterbreiten. Wir aber bekommen von Google auf unsere Suche hin vor allem das präsentiert, was zu unseren bisherigen Suchen passte.

Stimmt. Große Gefahr. Dazu kommt: Twitter geht schon bald an die Börse. Und hat vorher noch schnell MoPub, eine sehr ausgefuchtse Handelsplattform für Online-Werbung gekauft. Wer weiß, was das ändert. Bislang aber ist das mit der Filter Bubble bei Twitter anders - jedenfalls wenn man sich nur ein bisschen Mühe gibt bei der Auswahl derer, denen man folgt. Der Wiener Kommunikationsforscher Axel Maireder hat 3200 deutschsprachige Tweets ausgewertet und dabei festgestellt, dass jeder dritte Tweet einen Link enthält, der zu einem Online-Angebot redaktioneller Medien führt. Jeder dritte Tweet, den man liest, ist also ein Wegweiser in andere Texte hinein, oder wie es die Autoren des amerikanischen Magazins n+1 mal ausdrückten: Ein Tweet ist nur ein winziges Fenster, aber wer sagt, dass es nicht auf eine weite Landschaft hinausgehen kann?

Deshalb aber, so Maireder, erhält man auf Twitter drei Arten von Informationen: solche, von denen man weiß, dass sie einen interessieren. Solche, die einen nicht interessieren. Und, drittens, vielleicht am wertvollsten, "Nachrichten, die ich zu Themen erhalte, von denen ich bislang gar nicht wusste, dass sie mich interessieren."

Insofern ist Twitter eben kein weltanschaulich hermetischer Raum, sondern im Gegenteil eine Art Wundertüte, man stolpert permanent über Dinge, Aufsätze, Autoren, von denen man nie zuvor gehört hat, es gibt öffentliche Diskurse, die so nirgends sonst stattfinden würden, erinnert sei an "Aufschrei". Und man denkt sich abends oft, wie bunt die Welt doch ist.

Probieren Sie's aus. Es macht wirklich Spaß. Allein schon wegen des Wortwitzes. In den sieben Jahren, die es Twitter gibt, sind wahrscheinlich genauso viele gute Aphorismen entstanden wie in 100 Jahren Literaturgeschichte zuvor. Übertrieben? Macht nichts. Jedenfalls ist dadurch, dass man zu dieser Kürze gezwungen wird, vieles "so dicht und so intensiv, dass es zu kleinen poetischen Einheiten wird: Unter dem Druck der 140 Zeichen zu Diamanten gepresste Alltagskohle", schreibt der schon erwähnte Blogger Michael Seemann alias @mspro auf dem mittlerweile verwaisten Portal Twitkrit, auf dem er eine Zeit lang die schönsten Tweets so liebevoll wie literaturkritisch beleuchtete.

Gleichzeitig muss man an dieser Stelle auch den nervigsten Charakterzug der Twittergemeinde erwähnen: Am deutlichsten tritt er jeden Sonntag zutage. Wenn das digitale Kollektiv, jeder für sich, aber alle zusammen, "Tatort" und direkt im Anschluss "Jauch" schaut und kommentiert. Entnervend ist nicht die Zahl der Tweets, sondern der immergleiche Hohn, das Rudelverhalten. Man guckt, um sich gemeinsam drüber lustig zu machen.

Es geht nicht um Mitleid mit Jauch. Es geht um die Schlaubischlumpf-Attitüde, um dieses grienende Yeah, wir sind die digitalen Hipster, und ihr da draußen, ihr seid alle Friseure. Dass sie selbst Woche für Woche diesem öden Achtziger-Jahre-Ritual des familiären Sonntagskrimis frönen, scheint sie alle nicht im Geringsten zu irritieren. In solchen Momenten kann man gut verstehen, wie die eingangs konstatierte verzerrte Weltwahrnehmung auch hier auf Twitter fröhliche Urständ feiern kann.

Wer nun aber sagt, siehste, alles unpolitisch, da werden ja nur Witze über die Schlandkette von Frau Merkel gemacht, dem ist nach diesen 350 Zeilen auch nicht mehr zu helfen. Das. Stimmt. Einfach. Nicht. Sie sind Jurist? Folgen Sie dem Verfassungsblog. Sie interessieren sich für Geschichte? Sofort History in Pictures abonnieren. Lesen Sie mal, was @ahoi_polloi oder @diplix posten, lachen Sie über @bangpowwww oder den amerikanischen Komiker Steven Colbert. Kurzum: Schauen Sie sich einfach mal um da drin, bevor Sie solche Vorurteile wiederkäuen. Jeder, der nur halbwegs vernünftigen Leuten auf Twitter folgt, kann bestätigen: Nirgends waren so viele Aufrufe zu lesen, unbedingt zu dieser Wahl zu gehen wie auf Twitter.

Und was hat all das jetzt mit den Piraten zu tun? Nun, ihr Wundenlecken in Ehren, und es ist ganz bestimmt richtig, dass diese Partei jetzt, wie Christopher Lauer schrieb, erst mal ganz akut ihren "Scheiß klarkriegen" muss. Aber es ist doch befremdlich, dass Lauer immer noch die alte Dichotomie von Twitter und "was Echtem", von gehaltlosem Netz und der "Welt" aufmacht. Zumindest den digitalen Katzenjammer dieser Partei kann man runterkochen auf die Erkenntnis, dass sich das Netz und insbesondere Statusmeldungen von Politikern aus der Fußgängerzone von Metzingen nicht wirklich eignen für den Wahlkampf. Die Erfahrung haben andere Parteien genauso gemacht: Twitter mag praktisch sein für die interne Auseinandersetzung, "aber um eventuelle neue Wähler zu erreichen, ist es völlig unbrauchbar."

Das sagt kein Pirat, sondern der grüne Politiker und Social-Media-Experte Thomas Pfeiffer, der soeben versuchte, in den bayerischen Landtag zu kommen. Der Mann tweetete jeden Tag so viel Zeug von seinem Wahlkampf, man wusste über jedes Infostand-Event derart detailliert Bescheid, dass man auch als prinzipiell wohlgesonnener Follower irgendwann nur noch das Ende dieses Wahlkampfs herbeisehnte, auf dass diese Ödnis aufhören möge. All seine Tweets brachten Pfeiffer am Ende 745 Zweitstimmen ein. "Enttäuschend wenig", wie er selbst sagt. "Ich hab völlig an den Wählern vorbeigetwittert."

Gut. Aber das heißt ja nicht, dass Netzthemen unwichtig wären. Im Gegenteil, eigentlich bräuchten wir jetzt dringend eine progressive Netzpolitik und große Debatten. Stattdessen haben wir voraussichtlich weitere vier Jahre eine Kanzlerin, die das Internet noch immer als Neuland bezeichnet. Einen Innenminister, der von Anfang an behauptete, der unfassbare NSA-Skandal sei gar keiner. Eine Regierung, die lieber heute als morgen die Vorratsdatenspeicherung einführen möchte - und Fernsehsender, die noch immer zu jedem Quatsch Tweets verlesen in einem staunenden Ton, als sei da gerade eine Flaschenpost aus Papua-Neuguinea im Studio eingetrudelt. Kurzum: Es gäbe verdammt viel zu tun in Sachen Netzpolitik und Netznormalität.

Ach, aber wozu sich noch drüber aufregen, machen wir's lieber wie @Spreeblick: "Ich reg mich nicht mehr selbst auf, ich hab jetzt einen Echauffeur."

© SZ vom 28.09.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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