IT für ältere Menschen:Wie Technologie Senioren zu mehr Freiheit verhelfen soll

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Technik als Handreichung: Sie soll Senioren mehr Freiheit und Sicherheit geben und dabei helfen, das Stigma abzubauen, das mit dem Alter verbunden ist. (Foto: Illustration: Stefan Dimitrov)
  • Technische Geräte speziell für Senioren sind ein Wachstumsmarkt - auch weil der Anteil älterer Menschen in der Bevölkerung steigt.
  • Untersuchungen zeigen, dass die meisten Menschen solange wie möglich in den eigenen vier Wänden leben. Darauf ist Deutschland nach Ansicht von Experten schlecht vorbereitet.
  • Technologie kann nicht nur dabei helfen, das Wohl des Patienten zu sichern, sondern auch die Kosten im Gesundheitssystem einer alternden Gesellschaft einzudämmen.

Von Elisabeth Dostert

Albina B. ist 75 und hat sich an ihn gewöhnt. Im Alltag fällt der flache weiße Kasten von der Größe eines Taschenbuchs auf ihrer Kommode auch gar nicht auf. Nicht so sehr wie die vielen Familienfotos - die ihren Mann zeigen, die Kinder, die Enkel und die Urenkel. Fotos von Hochzeiten, Geburtstagen und fröhlichen Kindern, richtig auf Papier und eingerahmt. Albina B. ist froh, dass sie den Kasten hat. "Er gibt mir Sicherheit."

Das Ding auf der Kommode stört nicht, die kleine weiße Kunststoffbox, die am Fenster klebt, auch nicht. Im Bad hängt noch so ein Ding. "Wir haben ihr nur sagen müssen, dass sie beim Staubsaugen den Stecker nicht zieht", sagt David Martin, 26, ihr Enkel. Ohne Strom funktioniert das Monitoring-System nicht.

Die Kästen sind Empfänger und Bewegungssensoren. Sie registrieren, ob und wie sich die alte Frau bewegt und vor allem: ob sie sich nicht bewegt. Dann sendet das System eine Nachricht auf das Smartphone ihrer Tochter Annette Martin, 52. "Neulich hat meine Mutter mal gut geschlafen, sechs Stunden", erzählt sie: "Normalerweise schläft sie vier Stunden." Wie lange für gewöhnlich die Nachtruhe dauert, lässt sich im System einstellen. Albina B., ihren Nachnamen will sie nicht in der Zeitung lesen, besitzt auch einen Notruf für das Handgelenk. Das Armband liegt auf der Kommode, als der Besuch kommt. "Manchmal trage ich es schon", sagt sie: "Wenn ich mich nicht wohlfühle."

IT-Produkte für Senioren sind ein Wachstumsmarkt

Albina B. ist gut bewacht. Ihre Familie würde das so niemals sagen. Es klingt nach Kontrolle. Sie wollen sie doch nur beschützen. "So viel Freiheit wie möglich, so viel Schutz wie nötig", lautet die Devise ihrer Tochter Annette. Deshalb nimmt das System nur Bewegungen und keine Bilder auf, es gibt keine Überwachungskamera. Das würde ihre Mutter auch nicht wollen. Seit dem Tod ihres Mannes vor drei Jahren lebt sie allein. Er war lange pflegebedürftig. Deshalb haben sie auch den Treppenlift angeschafft, um in die Wohnung im ersten Stock über den Garagen zu gelangen. Manchmal nutzt Albina B. jetzt auch den Lift, wenn sie rausgeht, um ihre Hühner zu füttern, oder ins Dorf. Mehr braucht oder besser gesagt: will sie noch nicht, um sich das Leben zu Hause leichter zu machen.

Sie hat Glück, ihre Kinder wohnen im Umkreis von 30 Kilometern, und sie kümmern sich. Albina B. hat auch ein Auto, einen Smart. "Den haben wir damals gekauft, weil mein Mann da leichter ein- und aussteigen konnte." Längere Strecken fährt die 77-Jährige nicht mehr so gerne.

"Deutschland ist schlecht vorbereitet"

Produkte für Senioren, das ist ein Wachstumsmarkt. 1950 war erst jeder zehnte Einwohner mindestens 65 Jahre alt, heute ist es schon jeder Fünfte und bis 2050 könnte es etwa jeder Dritte sein, hat das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung berechnet. Der Anteil der Hochaltrigen, das sind Menschen, die älter als 80 sind, habe sich im Vergleich zu 1950 auf heute fünf Prozent verfünffacht und werde sich bis zur Mitte des 21. Jahrhunderts wahrscheinlich noch einmal verdreifachen. Jeder siebte Deutsche wäre dann 80 Jahre oder älter. Frauen stellen nach Angaben des Instituts dabei die Mehrheit.

"Deutschland ist darauf schlecht vorbereitet", sagt Ursula Lehr, 84, Vorsitzende des Vorstands der Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisationen (Bagso). Wie Untersuchungen zeigen, wollen die meisten Menschen so lange wie möglich in den eigenen vier Wänden leben. "Die wenigsten sind dafür eingerichtet, weil ihre Wohnungen und Häuser aus Zeiten stammen, in denen Architekten die Generationentauglichkeit wenig kümmerte."

Das hat sich geändert, nicht nur bei den Bauherren. Institutionen wie die Deutsche Gesellschaft für Gerontotechnik (www.gerontotechnik.de) oder das Berliner Institut für Sozialforschung (www. bis-berlin.de), Firmen wie der britische Konzern Tunstall oder der fränkische Mittelständler Martin Elektrotechnik, den Albina B.s Tochter Annette und ihr Mann Dieter gegründet haben, suchen nach Lösungen. Seit dem Wintersemester 2013/2014 bietet die Hochschule für Technik und Gestaltung in Berlin den Masterstudiengang Ambient Assisted Living (AAL) an. Der Begriff beschreibt Systeme, Produkte und Dienstleistungen für ein selbstbestimmtes Leben. Es geht um Technik, die sich an den Bedürfnissen des Menschen orientiert. Im April findet in Frankfurt schon der 8. AAL-Kongress statt.

Es gibt noch viel zu tun. Die Welt, in der immer mehr immer ältere Menschen leben werden, ist voller Barrieren, wie die Untersuchungen der Bagso zeigen. So gibt es in öffentlichen Gebäuden immer noch Treppen ohne Handleiste oder Treppen, deren Geländer nur bis zur vorletzten Stufe reicht. Ältere Menschen beklagen, dass bestimmte Pillen, die sie nehmen müssen, so klein sind, dass ein alter Mensch es wegen der nachlassenden Feinfühligkeit in den Fingerspitzen kaum schafft, sie wie vom Arzt vorgeschrieben zu teilen.

Und die meisten Notrufgeräte seien noch immer unansehnliche Kunststoffdinger. "Warum gibt es die nicht als Ohrclip", fragt Lehr. Neulich bot auf einer Seniorenmesse eine Firma Besteck an mit Griffen, "die sahen aus wie Maiskolben. Da muss der Leidensdruck sehr groß sein, um so etwas zu benutzen", sagt Lehr: "Auch alte Menschen wollen gutes Design oder Universal Design" - Design also, das sich für alle Altersgruppen eignet. Vieles ist in den vergangenen Jahren besser geworden, "aber vieles ist noch verbesserungsfähig und muss noch getan werden". Daran arbeiten Lehr und der Verband.

Produkte, die den körperlichen und intellektuellen Fähigkeiten entsprechen

Das Wort Senioren kommt bei vielen Kunden nicht besonders gut an, es gilt als Stigmatisierung. Wann ist jemand alt? "Der körperliche und der geistig-intellektuelle Zustand eines alternden Menschen sind nicht nur vom Taufscheinalter abhängig", sagt zum Beispiel der Sozialpsychologe Dieter Frey, Professor für Psychologie und Leiter des LMU-Center for Leadership and People Management. "Ein 65-Jähriger kann von seinem Geisteszustand wie von seiner körperlichen Verfassung wie ein 40-Jähriger sein, ein 40-Jähriger aber auch wie ein 70-Jähriger."

Deshalb gibt es auch nicht Produkte für 70-Jährige oder Produkte für 80-Jährige. Es gibt Produkte, die den körperlichen und intellektuellen Fähigkeiten entsprechen - gleich welchen Alters.

Firmen wie Hiro liefern Aufzüge, die sich nachträglich montieren lassen - drinnen und draußen. Es gibt Teppiche mit Sensoren, um Bewegungen oder Stürze zu erkennen. Es gibt Smartphones, die sich fernsteuern lassen, PC-Tastaturen mit extra großen Buchstaben und Software wie Lever@Home, um das Gedächtnis zu trainieren (https://portal.lever-projekt.de). Über ein Tablet lässt sich, wenn man will, das gesamte vernetzte Haus steuern oder Teile davon. Informationstechnologie ist das zentrale Element vieler AAL-Systeme.

Teures Gesundheitssystem für eine alternde Gesellschaft

Wenn Thomas Gerke auf Reisen geht, hat er immer einen silberfarbenen Koffer dabei. Da steckt ein Hausnotruf drin, ein Notruf-Armband und ein Rauchmelder. "Im Notfall meldet sich eine freundliche Stimme aus dem Callcenter eines Rettungsdienstes und fragt, was passiert ist", sagt Gerke. Er arbeitet für die britische Firma Tunstall. Sie liefert nicht nur Hausnotrufe, sondern auch Telehealthcare-Systeme. Damit lassen sich zu Hause Vitalfunktionen wie Blutdruck, Puls oder Blutzucker messen und beobachten. Die Geräte fordern ihren Besitzer sogar dazu auf, Messungen vorzunehmen oder ein Medikament zur richtigen Zeit einzunehmen. Die Ergebnisse können per Festnetz oder Mobilfunk an ein Callcenter übertragen werden, an eine Krankenkasse oder einen ambulanten Pflegedienst. Studien haben gezeigt, dass Zahl und Dauer von Krankenhausaufenthalten und Notfalleinsätzen durch den Einsatz von Telehealthcare-Systemen deutlich gesenkt werden können.

Es geht dabei, zweifelsohne, allerdings nicht nur um das Wohl des Patienten, sondern auch um Wege, die Kosten im Gesundheitssystem einer alternden Gesellschaft einzudämmen. Die Grenze zwischen Verlust und Gewinn an persönlicher Freiheit durch neue Techniken ist manchmal schwer zu ziehen.

Albina B. hat bislang den Notruf an ihrem Handgelenk nur einmal ausgelöst. Auf dem Handy ihrer Tochter ging prompt eine Nachricht ein. Sie hat auch gleich angerufen. Einer von Albinas Söhnen war gerade operiert worden. Albina wollte bloß mitteilen, dass alles gut gegangen ist.

© SZ vom 11.02.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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