Sylt hätte sicherlich ein schönes Bergdorf abgegeben - wenn sich im Jahr 1932 deutsche Ingenieure mit ihrer Idee durchgesetzt hätten. Analog zur holländischen Polderbildung hatten sie geplant, mit Spülbaggern mitten in der Nordsee Dämme von 30 Metern Höhe aufzuwerfen, um neues Siedlungsland in der Größe Österreichs und der Schweiz zu gewinnen.
Der russische Ingenieur M. M. Dawydow ersann 1950 einen noch kühneren Plan für die Sowjetunion. Die sibirischen Flüsse Ob und Irtysch sollten zu einem Stausee vereinigt werden, der die Größe der alten BRD gehabt hätte. Das neue Gewässer wiederum sollte die Trockengebiete um den Aralsee und das Kaspische Meer fruchtbar machen. Der Kanal-Idee stand nur ein kasachisches Gebirge im Weg - man hätte es sprengen müssen. Erst 1986 wurde dieser Plan aufgegeben.
Die zweifellos ambitionierteste, aber auch wirklichkeitsfernste dieser megalomanen Visionen großflächigen Umbaus der Erde im technikseligen 20. Jahrhundert aber war Herman Sörgels berüchtigte Vision "Atlantropa". Der Münchner Architekt und Schriftsteller wollte wohl Goethes "Faust" ("Der kleine Gott der Welt") und Jules Verne gleichzeitig übertrumpfen, als er 1927 Pläne für die partielle Austrocknung des Mittelmeers und die Bewässerung des Kongo entwarf.
Aussicht auf künftige Paradiese
Mit Hilfe eines gigantischen Staudamms an der Meerenge von Gibraltar sollten 600.000 Quadratkilometer Neuland gewonnen werden. Gewaltige Turbinen hätten Strom erzeugt. An den Ufern von drei neuen riesigen Seen in Afrika wollte Sörgel Europäer ansiedeln. Der Mann war Pazifist, aber seine Utopie war zweifellos von kolonialem Geist umweht. Die bekanntesten Architekten jener Zeit wie Erich Mendelsohn, Ludwig Mies van der Rohe, Emil Fahrenkamp oder Hans Döllgast focht das nicht an - immerhin gab es neue Küstenstädte vor Genua oder Marseille zu planen.
Die Mittelmeeranrainer allerdings waren weniger begeistert von Sörgels Visionen. Nicht ohne Grund: Wie die anderen technikeuphorischen Makro-Projekte hätte "Atlantropa" massive Auswirkungen auf das Weltklima gehabt; das vermeintliche neue Ackerland auf dem Grund des Mittelmeers hätte sich als versalzene Steppe dargeboten. Nicht zufällig wurden diese Makroprojekte auch "Weiße Elefanten" genannt: Im alten Thailand wurden in Ungnade gefallene Höflinge mit diesen äußerst seltenen Tieren bedacht. Der Unterhalt der Giganten trieb sie dann in den Ruin.
Doch so aberwitzig und in seinen Konsequenzen nicht abschätzbar sich auch Sörgels Plan heute darstellt: Im Kern folgt er einem Muster, welches heute wieder sehr aktuell ist - vielleicht aktueller denn je. Denn die Phantasien des 20. Jahrhunderts - von denen ja nicht wenige auch realisiert wurden, wie man an Städten wie Magnitogorsk im Südural oder Projekten wie dem Drei-Schluchten-Damm am Jangtse sieht - verdanken sich allesamt einer teleologischen Geschichtsauffassung (griech. "telos", das Ziel). Es geht um die Überzeugung, dass die Zukunft jetzt schon beherrschbar sei oder ohnehin schon feststehe; dass sich der Lauf der Zeit zwangsläufig in eine bestimmte Richtung entwickeln werde.
Nahezu die gesamte Kultur des frühen 20. Jahrhunderts war von einer unbestimmten Heilserwartung getragen, von der Aussicht auf künftige Paradiese. Man kann dies an der umfassenden Reformbewegung des Bauhauses genauso ablesen wie an der aggressiven Technikbegeisterung der italienischen "Futuristen" oder an Bruno Tauts Utopie der zu diamantenen Palästen umgebauten Alpengipfel - einer Vermählung von Kunst und Natur als Gesamtkunstwerk.
Auch die am Montag in München getroffene Entscheidung eines Konsortiums von zwölf Unternehmen, bis November eine Planungsgesellschaft für das Großprojekt " Desertec" zur Erzeugung von Solarstrom in der Sahara zu gründen, geht im Grunde auf dieses Geschichtsbild zurück, das derzeit wieder Konjunktur hat - wobei die heutige Teleologie eher apokalyptische Züge aufweist. Die Zukunft wird schlimm, also müssen wir sie verändern - so lautet mittlerweile eine gängige Losung bei Ökologen, zumal bei den technikbegeisterten.
Projekt ohne Irrwitz
"Desertec" klingt zunächst ganz nach einer Idee der möglichen Zerschlagung des Gordischen Knotens, als den sich das anbahnende ökologische Desaster jetzt schon darstellt. Dem Projekt fehlt auch vollständig der Irrwitz der Weltbaumeister von ehedem, deren Pläne unser Wetter auf unkalkulierbare Weise verändert hätten. Allerdings mutet das Konzept, auf dem Gebiet der nordafrikanischen Staaten solarthermische Kraftwerke zu errichten, die 15 Prozent des europäischen Energiebedarfs decken sollen, ähnlich eurozentrisch an wie die Makroprojekte früherer Zeiten.
Unklar ist nach wie vor, ob alle beteiligten afrikanischen Staaten mitspielen. Obwohl man die Sonnenwärme dort niemandem wegnimmt, bedeutet "Desertec" ja immerhin Landnahme im großen Stil - was die Wüstenstaaten davon haben, ist ebenfalls noch sehr fraglich, obwohl nun vollmundig erklärt wird, der Lebensstandard dieser Länder werde steigen. Der Glaube an die Machbarkeit ist also da, und ohne ihn ginge es auch gar nicht. Doch was am Montag auf der Pressekonferenz verkündet wurde - von einer "Option auf eine sicherere Welt" war die Rede, von dem Ziel einer "bis 2050 sauberen Stromversorgung" -, klingt dann doch eher nach den "Weißen Elefanten". Es sind mutige, ja gewagte Prognosen.
Und wie bei allen Großprojekten dieser Art, wie auch etwa bei den Weltrettungsplänen des "Geo-Engineering" - man will etwa Myriaden kleinster Partikel in die Stratosphäre blasen, um die Sonnenstrahlung und damit die Erderwärmung abzumildern -, steht bei "Desertec" das Vertrauen in die Technik an vorderster Stelle. Sie soll leisten, was die Politik versäumte. Phantastische Zahlen kursieren: zwei Millionen neue Arbeitsplätze, Kosten von 400 Milliarden Euro, bis 2050 eine Leistung von 700 Terawattstunden.
Versiegende Flüchtlingsströme
Suggeriert wird mit diesem Zahlengeflimmer nicht zuletzt, dass die Technologie zum Surrogat politischen Handelns werden könne - und unterschlagen wird, dass die Segnungen der Technologie noch immer neue politische Realitäten geschaffen haben, mit denen sich wiederum die folgenden Regierungen herumschlagen mussten. Ernsthaft war am Montag davon die Rede, dank "Desertec" könnten am Ende auch die Flüchtlingsströme nach Europa versiegen.
Als "Sonnenkönige" hat man die "Desertec"-Macher schon bezeichnet. So metaphorisch ist der Begriff gar nicht. Das Versailles von Louis XIV. hat die Sonne als Fluchtpunkt. Im Schloss des Sonnenkönigs fielen die Grenzen des absolutistischen Systems mit den Grenzen der Welt zusammen. Im Zeitalter der Aufklärung, das Licht mit Wahrheit gleichsetzte, war nichts weniger als die vollständige rationale Beherrschbarkeit der Welt das Ziel. Leben wir denn immer noch in diesem Zeitalter?