Komplizierte Regeln im Steuerrecht stimmen Rudolf Mellinghoff ärgerlich. Und das nicht zufällig: Der amtierende Präsident des Bundesfinanzhofes (BFH) ist ein Schüler von Paul Kirchhof, des großen Steuervereinfachers. Wie Kirchhof war auch der 57-jährige Mellinghoff Verfassungsrichter. Seit dem 1. November 2011 steht er dem obersten Finanzgericht in München vor. Eine fordernde Aufgabe, bei der oft wenig Zeit bleibt - etwa für die eigene Steuererklärung.
SZ: Herr Mellinghoff, haben Sie Ihre Steuererklärung schon gemacht?
Mellinghoff: Nein, noch nicht.
SZ: Weil Sie's nicht selbst machen?
Mellinghoff: Doch, natürlich mache ich das selbst. Habe ich schon immer. Allein schon, um das Erlebnis dieser manchmal nicht ganz einfachen Betätigung auszukosten.
SZ: Und wie ist es, dieses Erlebnis?
Mellinghoff: Sehr mühsam. Ich will mir als Präsident des Bundesfinanzhofs ja auch nicht vorwerfen lassen, Fehler zu machen. (lacht)
SZ: Wie könnte man es Ihnen und anderen Steuerzahlern denn leichter machen?
Mellinghoff: Man könnte vieles vereinfachen. Muss man etwa Handwerkerleistungen notwendig im Einkommensteuergesetz regeln? Wenn ich sehe, wie gut es dem deutschen Handwerk geht, frage ich mich, wozu man das braucht.
SZ: Und die Pendlerpauschale?
Mellinghoff: Das gehört zu den sensibelsten Themen im deutschen Steuerrecht. Die kann man nicht abschaffen, das würde der Lebenswirklichkeit nicht gerecht. Aber man könnte sie vereinfachen wie auch die steuerliche Behandlung doppelter Haushaltsführung und der Reisekosten. An einem kommen wir aber nie vorbei: Der Steuerzahler wird immer Belege sammeln müssen, um Werbungskosten geltend zu machen. Aber man könnte Abzugsmöglichkeiten bei der Steuer deutlich reduzieren und mehr mit Pauschalen arbeiten. Nur stehen dem große Interessenverbände entgegen.
SZ: Und das Gerechtigkeitsempfinden der Bürger.
Mellinghoff: Unser Steuersystem versucht ja, größtmögliche Einzelfallgerechtigkeit herzustellen, also in jedem Einzelfall jeden Tatbestand auf Heller und Cent zu berücksichtigen. Dadurch wird das System aber unheimlich kompliziert.
SZ: Sogar manche Finanzbeamte verstehen es nicht mehr richtig.
Mellinghoff: Genau. Die Materie ist so komplex, zugleich sind die Finanzämter so überlastet, dass unser Steuerrecht nicht mehr einheitlich angewandt wird. Das ist natürlich erst recht ungerecht.
SZ: Der Steuerzahler kann sich längst nicht mehr darauf verlassen, dass der Bescheid korrekt ist. Wird deswegen mehr geklagt?
Mellinghoff: Nein, ich habe den Eindruck, dass der Steuerbürger immer mehr resigniert. Er ergibt sich dem Steuersystem und findet den Weg zu den Finanzgerichten nicht mehr.
SZ: Wenn es ums Tricksen bei der Steuererklärung geht, ist aber von Resignation nichts zu spüren. Liegt das auch am komplizierten System?
Mellinghoff: Diesem Sport widmen sich die Deutschen mit ganz besonderer Hingabe. Bei einem Steuerrecht mit vielen Abzugsmöglichkeiten ist es eben eine Herausforderung für jeden, diese auch alle auszunutzen.
SZ: Ein heikles Hobby. Steht nicht jeder, der seine Steuererklärung selbst macht, mit einem Bein im Gefängnis?
Mellinghoff: Nein, nicht wenn er ehrlich ist. Man sollte sich aber gut überlegen, ob man bei der Entfernungspauschale einfach mal sieben Kilometer mehr angibt. Das ist Betrug, das ist Steuerhinterziehung! Wer das macht, steht auch sehr schnell mit mehr als einem Bein im Gefängnis. Zu Recht, wie ich finde. Jeder nicht gezahlte Euro an Steuern belastet die ehrlichen Steuerzahler.
SZ: Immer wieder versprechen Regierungen, das Steuerrecht zu vereinfachen. Warum gelingt es nie?
Mellinghoff: Es gibt in der Politik immer zwei Wünsche: Die Steuerreform soll aufkommensneutral sein, und sie darf keinem wehtun. So bekommt man's nie hin.
SZ: Sie würden den Leuten wehtun?
Mellinghoff: Ich würde Gerechtigkeit schaffen. Geht es nach dem Bürger, ist jede Mehrbelastung ungerecht. Er schaut nur auf den eigenen Geldbeutel. Der ist aber kein Maßstab für Gerechtigkeit. Richtig wäre zu fragen, ob ein neues Steuerrecht als Gesamtsystem alle Bürger gerecht behandelt, auch wenn der ein oder andere höher belastet wird. Wer bislang zu viel zahlt, würde dann weniger zahlen. Aber wer zu wenig zahlt, würde dann auch mehr zahlen als heute.
SZ: Wir sind also selbst schuld, dass wir kein besseres Steuersystem kriegen?
Mellinghoff: Eine Steuerreform ist für die Politik einfach nicht sexy. Das ist eine unangenehme Herkulesaufgabe, die einem niemand dankt.
SZ: Wie einfach könnte eine Steuererklärung sein? Würde der berühmte Bierdeckel funktionieren?
Mellinghoff: Ich kann mir ein Steuerrecht vorstellen, in dem ein Arbeitnehmer, der nur geringe Werbungskosten und keine weiteren Einkünfte hat, kaum jemals eine Steuererklärung machen muss. Wenn doch, würde der Bierdeckel wohl nicht reichen, zwei DIN-A4-Seiten aber schon.
SZ: Davon sind wir weit entfernt. Macht Ihnen als oberstem Finanzrichter die Steuererklärung trotzdem Spaß?
Mellinghoff: Nein, Spaß macht das wirklich nicht. Aber man lernt viel dabei, daher empfehle ich jedem Mitarbeiter hier im Haus, einmal selbst eine Steuererklärung zu machen. Grundsätzlich beschäftige ich mich gern mit Steuern - gerade weil sie enorme Auswirkungen auf den Einzelnen haben. Fragen Sie etwa mal die Notare, was los ist, wenn das Erbschaftsteuerrecht reformiert wird.