Start-ups:Brexit? Welcher Brexit?

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Fußgänger in Londons Büroviertel Canary Wharf: Der Immobilienentwickler, der das gebaut hat, zieht nun direkt daneben ein weiteres Viertel hoch – mit vielen Büros für Start-ups. (Foto: Chris Ratcliffe / Bloomberg)

In Londons altem Hafen entsteht ein riesiges Büroviertel für junge Technologiefirmen. Auch viele etablierte Internetkonzerne zieht es an die Themse.

Von Björn Finke, London

Wo früher Schiffe ankerten, sollen bald Gründer ihre Unternehmen aufbauen: Im alten Londoner Hafenareal Wood Wharf zieht ein Immobilienentwickler Hochhäuser hoch, die neben bis zu 3600 Wohnungen auch Büros für junge Technologiefirmen beheimaten werden. Am Dienstag stellte die Gesellschaft Canary Wharf Group ihre Pläne für den neuen Stadtteil der Kapitale vor. Die Arbeiten sollen 2023 abgeschlossen sein, und dann werden die Glastürme Platz für die Schreibtische, Tischtennisplatten und Kickertische von 20 000 Angestellten aufstrebender Firmen bieten. Wood Wharf wird eins der größten Zentren für Start-ups nicht nur in London oder Großbritannien sein, sondern in ganz Europa.

Der Immobilienentwickler Canary Wharf Group (CWG) verwandelte Ende der Achtzigerjahre braches Hafengelände an der Themse in das Büroviertel Canary Wharf. Das ist 39 Hektar groß; 120 000 Menschen arbeiten in den Glastürmen im Osten Londons - vor allem in der Finanzbranche, doch immer öfter auch bei Technologiekonzernen, die dort Etagen beziehen. Das benachbarte, neun Hektar große Hafengelände Wood Wharf soll von Anfang an auf Technik-Unternehmen abzielen und zusätzlich dringend benötigte Wohnungen schaffen. "Die Canary Wharf Group hat schon einmal Londons Bürolandschaft neu erfunden", sagt CWG-Chef George Iacobescu. "Mit Wood Wharf wollen wir das noch einmal machen, diesmal für das Zeitalter schnell wachsender Firmen aus der Technologie- und Kreativbranche." Eigentümer von CWG sind seit drei Jahren ein katarischer Staatsfonds und der kanadische Investor Brookfield.

Nach London fließt doppelt so viel Investorengeld wie nach Berlin und Paris zusammen

Der Zeitpunkt des Investments ist heikel: Großbritannien verlässt in weniger als sechs Monaten die EU, und bislang können sich London und Brüssel nicht auf die Bedingungen der Trennung einigen. Scheitern die Gespräche, gibt es auch nicht die ausgemachte Übergangsphase, in der sich bis Ende 2020 für Unternehmen nichts ändern soll. Im März würden dann Zölle für Geschäfte über den Ärmelkanal eingeführt. Und selbst bei einer Einigung mit Übergangsphase ist unklar, wie die Wirtschaftsbeziehungen zur EU, dem wichtigsten Handelspartner, langfristig aussehen werden.

Verbände, Industrie- und Bankmanager klagen über diese Ungewissheit; in exportabhängigen Branchen wie der Autoindustrie sinken die Investitionen. Doch das Management der Canary Wharf Group geht trotz des Brexit-Gewürges davon aus, dass London weiter ein Magnet für Gründer, Technologie- und Internetkonzerne sein wird.

Bislang ist die Metropole mit ihren 8,8 Millionen Einwohnern Europas Start-up-Kapitale. Der anstehende Brexit hat am Reiz der Stadt für junge, hippe Firmen nichts ändern können. Während der zwei Jahre seit dem EU-Referendum 2016 zogen Londons junge Technologie-Unternehmen 4,5 Milliarden Euro Investorengeld an - doppelt so viel wie Berlin und Paris zusammen. Und das, obwohl die Europäische Investitionsbank, ein Förderinstitut der EU, seit der Volksabstimmung deutlich weniger Kapital in Großbritannien anlegt.

Auch die etablierten Internetkonzerne kommen gerne an die Themse. Die Google-Mutter Alphabet errichtet in der Nähe des Bahnhofs King's Cross einen Riegel, den die Londoner Landscraper nennen, in Anlehnung an Skyscraper, also Wolkenkratzer. Denn das elfstöckige Gebäude wird mit 330 Metern länger sein, als das mächtigste Hochhaus der Stadt hoch ist. Auf dem Dach des Google-Palastes wird ein Garten angelegt plus eine 200 Meter lange Joggingstrecke für die mehr als 5000 Beschäftigten. Rivale Apple will in drei Jahren eine neue Londoner Zentrale am südlichen Themseufer einweihen, in der Battersea Power Station. Das ausrangierte Kraftwerk kennen Pink-Floyd-Fans vom Cover des Albums "Animals". 3000 Menschen sollen da tätig sein; bislang hat der Konzern 1400 Angestellte im Königreich.

Facebook und Amazon eröffneten bereits im vergangenen Jahr neue Büros in der Kapitale, stets verbunden mit der Ankündigung, viele Stellen zu schaffen. Die Technologie-Unternehmen und Start-ups setzen auf London, weil die kosmopolitische Metropole junge, gut ausgebildete Menschen aus aller Welt anlockt. So arbeiten in keiner europäischen Stadt mehr Programmierer. Die Top-Universitäten in London und im nicht weit entfernten Cambridge und Oxford sind ebenfalls attraktiv. Die britische Regierung will nach dem Brexit zwar die Einwanderungsgesetze verschärfen, doch Hochqualifizierte sollen immer willkommen sein.

Hilfreich für Gründer ist auch, dass die Hauptstadt ein globales Finanzzentrum ist und daher viele mögliche Investoren vor Ort sind. Der Brexit wird an Londons Status nichts ändern, selbst wenn Finanzinstitute einige Tausend Stellen von der Themse in verbleibende EU-Staaten verlagern, um nach dem Austritt weiter Kunden dort bedienen zu können.

Besonders nützlich ist die Nähe des großen Geldes für Fintechs, also für Start-ups, die mit Internetanwendungen die Bankenbranche aufmischen. Solche Betriebe brauchen neben Programmierern Finanzfachleute - und die gibt es zuhauf in London. Unter anderem sitzen in der Hauptstadt Transferwise und Revolut, zwei der am höchsten bewerteten europäischen Fintech-Firmen. Revolut residierte am Anfang in einem Gründerzentrum in Canary Wharf, hat inzwischen aber eigene Büros in dem früheren Hafenareal gemietet. Bald könnten dieses und viele andere Technologie-Unternehmen einen Hafen weiter ziehen, von Canary Wharf nach Wood Wharf.

© SZ vom 10.10.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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