Der Ernstfall beginnt an diesem Freitag um 9.29 Uhr in Aachen. Zwei Minuten später geht es in München los, dann in Frankfurt und Berlin. Für eineinhalb Stunden wird dann nach und nach ein seltenes Naturspektakel das ganze Land erfassen. Der Mond, so die Prognosen, wird sich von rechts nach links vor die Sonne schieben und bis zu 80 Prozent des strahlenden Sterns verdecken.
Die Folge: Es wird dunkel in Deutschland. Noch vor gut zehn Jahren, bei der letzten vergleichbaren Sonnenfinsternis im Mai 2003, galt das vor allem als unterhaltsames Phänomen, das Millionen Deutsche mit Schutzbrillen verfolgten. Doch mit der Energiewende hat sich vieles verändert. Binnen einer Dekade ist die Sonne zum wichtigen Faktor im hiesigen Stromnetz geworden - und zum Lieferanten eines großen Teils der Energie. Auf einer Million deutschen Dächern speisen Solaranlagen heute täglich Strom ein - jedenfalls wenn genug Licht einfällt.
Testlauf für die Versorgungssicherheit
An Freitag werden deshalb überall im Land Ingenieure aus Angst vor einem Blackout die Luft anhalten. Denn das Naturschauspiel wird zum Testlauf für die Versorgungssicherheit. "Die Sonnenfinsternis wird das deutsche und europäische Höchstspannungsnetz auf eine große Belastungsprobe stellen", erklärt der Netzbetreiber Tennet, der einen Großteil der Stromtrassen zwischen Nordsee und Alpen kontrolliert. Denn an sonnigen Tagen liefern Solaranlagen inzwischen fast 40 Gigawatt an Leistung - so viel wie 40 Großkraftwerke.
Mit der Finsternis könnte ein Großteil plötzlich wegfallen und mit Ende der Sonnenfinsternis rasch wieder ans Netz gehen - eine gewaltige Schwankung, die es in dieser Intensität noch nie gab. In Deutschland lässt die Angst vor dem Stromausfall eine alte Diskussion neu aufflammen: die um Notkraftwerke fürs Stromnetz. Denn die Gefahr ist mit Ende des Naturschauspiels nicht gebannt. Schon jetzt machen sich Experten und Behörden darüber Gedanken, wie die Stromversorgung in den kommenden Wintern gesichert werden kann, wenn wegen des beschleunigten Atomausstiegs immer weniger Kraftwerke am Netz sind und schwankungsanfällige grüne Energien noch größere Anteile der Versorgung beisteuern.
Größerer Bedarf an Notkraftwerken
Nach Informationen der Süddeutschen Zeitung wächst der Bedarf an Notkraftwerken deutlich. Damit die Lichter bei Flauten nicht ausgehen, orderten die Netzbetreiber schon im Winter 2013/2014 gut 2500 Megawatt an zusätzlicher Kraftwerksleistung, um über die Runden zu kommen. Für den laufenden Winter sind es nach Auskunft der Bundesnetzagentur gut 3600 Megawatt. Doch der Bedarf an Reservekraftwerken soll sich den Angaben zufolge in den nächsten Jahren fast verdoppeln. Für den kommenden Winter, wenn das unterfränkische AKW Grafenrheinfeld vom Netz ist, soll die Menge auf 6000 Megawatt ansteigen.
Zusätzliche zwei Kraftwerksblöcke müssten dann als Reserve hinzukommen. Für den Winter 2017/2018, wenn der Reaktor Gundremmingen B keinen Strom mehr einspeist, rechnet die Bundesregierung sogar mit 7000 Megawatt Reserve. Kosten: 130 Millionen Euro, finanziert von den Stromkunden. So geht es aus der Antwort des Wirtschaftsministeriums auf eine Frage des Grünen-Abgeordneten Oliver Krischer hervor, die der SZ vorliegt.
Deutschlands Stromversorgung muss dabei zudem immer häufiger auf Kraftwerke im Ausland zurückgreifen. Waren zuletzt neben alten Meilern in Deutschland auch Anlagen in Österreich als Notstrom-Reserve gedacht, sollen vom kommenden Winter an notfalls Kraftwerke in Frankreich, der Schweiz und Italien anspringen. In Berlin macht sich angesichts der ungelösten Probleme im Netz Ärger breit. Die Opposition fordert eine Lösung. "Wir brauchen endlich die überfällige Reform des Strommarkts", sagt Krischer. Sie müsse dafür sorgen, dass bei Flaute und Schatten rasch umweltfreundliche Kraftwerke anspringen. Der Grünen-Energiepolitiker hat auch beim Wie genaue Vorstellungen: ermittelt am besten per Ausschreibung.
Das Bundeswirtschaftsministerium werkelt seit Monaten an dieser Reform, sie soll klären, ob und wie Stromkonzerne künftig dafür entlohnt werden, dass sie Kraftwerke einsatzbereit halten, obwohl diese jenseits von Sonnenfinsternissen und Windflauten immer seltener zum Einsatz kommen. Sigmar Gabriel (SPD), der Energieminister, hält von einer Subvention wenig und spottet über eine Art "Hartz IV für alte Kraftwerke", auch die Kanzlerin hält sich zurück. Denn bundesweit gibt es eher zu viele als zu wenig Kraftwerke. Sie sind nur schlecht verteilt. Vor allem im Süden aber wächst die Not. So warnen Bayern und Baden-Württemberg, wo in den nächsten Jahren die meisten Kernkraftwerke vom Netz gehen, vor Stromengpässen. Bis zum Sommer will die Bundesregierung entscheiden, ob und wie stark sie in den Markt eingreift.
Das Wirtschaftsministerium dagegen sieht bis 2025 keine Engpässe - schon wegen des grenzüberschreitenden Stromaustauschs mit Nachbarstaaten.
Umso aufmerksamer verfolgt die Branche nun das Naturspektakel am Freitag - es gilt auch als Stresstest für das Gesamtsystem. "Die Sonnenfinsternis zeigt beispielhaft, welche Herausforderungen die Energiewende für das Gesamtsystem der Stromversorgung bedeutet", sagt Rainer Joswig, Chef des süddeutschen Netzbetreibers Transnet BW, einer Tochter des Energiekonzerns EnBW. Theoretisch gäbe es eine einfache Möglichkeit, die Schwankungen zu verhindern. Solardächer müssten nur abgeschaltet werden.
Doch das ist technisch nicht machbar, die wenigsten Anlagen lassen sich aus der Ferne steuern. Seit Monaten bereiten sich die vier großen deutschen Netzbetreiber 50 Hertz, Amprion, Tennet und Transnet BW in Arbeitsgruppen und mit wissenschaftlichen Expertisen auf den abrupten Spannungsabfall vor. Am Freitag um 11.55 Uhr soll Deutschland den Test bestanden haben - oder auch nicht. Klar ist: Der Ernstfall wird sich so schnell nicht wiederholen. Eine weitere Sonnenfinsternis wird erst wieder 2021 zu beobachten sein. Dann allerdings, heißt es in Papieren des Netzbetreibers Transnet BW, könnte das Problem noch größer werden. Läuft alles nach Plan, sind dann schon Solaranlagen mit einer Leistung von 50 000 Megawatt am Netz.