Slenderman:Mordversuch im Auftrag eines Internet-Mems

Lesezeit: 3 min

Eine der Zeichnungen, die Slenderman darstellen und im Netz kursieren (Lizenz: CC BY-SA 4.0). (Foto: LuxAmber CC BY-SA 4.0)

Zwei Kinder stechen auf ihre beste Freundin ein. Sie glauben, im Sinne des unheimlichen Slenderman zu handeln, eines Internetphänomens.

Von Hakan Tanriverdi, Austin

"Raste aus! Dreh durch!" Diese Befehle gibt Anissa M., ein zwölfjähriges Mädchen aus Wisconsin, der zwölfjährigen Morgan G. Morgan sticht daraufhin mit einem Messer 19 Mal auf ihre beste Freundin ein. Die Mädchen zerren das Opfer, Peyton L., ein Stück weiter in den Wald, bedecken es mit Blättern und wandern davon.

Peyton hat überlebt. Sie robbte mit letzter Kraft zu einer Straße, wurde entdeckt und konnte später Beamten erklären, was passiert war. Wenige Stunden nach der Tat im Jahr 2014 wurden Anissa und Morgan von der Polizei verhört. Acht Stunden lang erzählten beide Mädchen von ihren Motiven.

Die Mädchen dachten, dass Slenderman wirklich existiert

Die Täterinnen gaben an, im Auftrag von Slenderman (dem "schlanken Mann") gehandelt zu haben. Dahinter steckt ein Internet-Mem, erfunden im Jahr 2009 während eines Photoshop-Wettbewerbs auf der Webseite Something Awful. Der Ursprung des Mems ist gut dokumentiert, doch über die Jahre hinweg ist daraus ein Mythos entstanden. Vor allem Kinder bringen Fakten und Fiktion durcheinander. Weder Anissa noch Morgan war ihren Aussagen zufolge bewusst, dass Slenderman gar nicht existiert.

Das Slenderman-Mem taucht seit Jahren immer wieder auf und verändert sich dabei ständig. Die Figur wird als gesichtsloses Wesen porträtiert, steckt in Herrenanzügen und ist schlank. Dann hören die Gemeinsamkeiten der verschiedenen Varianten des Mems auch schon auf. In manchen ist das Wesen bis zu vier Meter groß und Tentakel ragen aus seinem Rücken.

Der Mann, der das Phänomen Slenderman erfand, sprach vor Jahren in einem Interview über seine Beweggründe: "Ich wollte etwas gestalten, dessen Motivation man kaum verstehen konnte und das grundsätzlich Unbehagen und Schrecken in der Bevölkerung auslösen sollte."

Regisseurin verbrachte 18 Monate mit den Familien der Verdächtigen

Diese Videoaufnahme ist Teil einer Dokumentation über den versuchten Mord, die auf dem SXSW-Festival in Austin Premiere gefeiert hat. Regisseurin Irene Brodsky hat 18 Monate mit den Familien der Mädchen verbracht. Im Film werden auch die gefilmten Verhöre gezeigt. "Wir haben dadurch die Möglichkeit, viel tiefer in ihre Denkweise einzutauchen", so Brodsky während einer Podiumsdiskussion.

Im Film wird das Google+-Profil von Anissa gezeigt. Der Zuschauer sieht, für welche Youtube-Videos sich das Mädchen interessiert hat: Hasen, die Himbeeren essen. Eine Katze, die eine Maus verspeist. Ein Clip, der zeigt, wo sich bei Menschen empfindliche Stellen befinden. Mehrere Quizfragen, die klären sollen, ob man ein Soziopath ist. Und angebliche Aufnahmen des Slenderman.

Slenderman hat viele Formen

Slenderman, das ist Teil des Mythos, soll sich Kinder schnappen. Was er mit ihnen tut, kann schrecklich sein - oder ziemlich nett.

Plattform X

Die SZ-Redaktion hat diesen Artikel mit einem Inhalt von X Corp. angereichert

Um Ihre Daten zu schützen, wurde er nicht ohne Ihre Zustimmung geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir Inhalte von X Corp. angezeigt werden. Damit werden personenbezogene Daten an den Betreiber des Portals zur Nutzungsanalyse übermittelt. Mehr Informationen und eine Widerrufsmöglichkeit finden Sie untersz.de/datenschutz.

"In Fanfiction taucht Slenderman durchaus auch als Schutzengel auf. Auf Seite 12 weidet er noch ein Kind aus, auf Seite 14 hingegen kümmert er sich um ein anderes Kind, das in seinem Schoß sitzt", sagt Brodsky. In diesem Sinne sei die Legende des Slenderman vergleichbar mit der Sage des Rattenfängers von Hameln, der mit seinem Flötenspiel 130 Kinder entführte. Was mit ihnen passierte, nachdem sie in der Höhle verschwanden, ist unbekannt.

Anissa und Morgan waren überzeugt, dass sie das Leben ihrer Freundin opfern müssten. Es sei "notwendig" gewesen, sagt Anissa während des Verhörs. Die Kinder gingen davon aus, dass Slenderman Jagd auf Kinder macht. Nur Blutzoll würde sie beschützen. Im Laufe des Films wird bekannt, dass Morgan mittlerweile Medikamente nimmt. Sie leidet an Schizophrenie.

Das Phänomen Slenderman zeige den Zuschauern eindrücklich, wie wichtig bewusster Medienkonsum sei, sagt die Psychologin Jacqueline Woolley, die als Protagonistin im Film auftaucht. Das gelte gerade für Kinder: "Wir müssen uns Dinge nicht mehr merken. Wir können sie online nachschauen. Wir brauchen mehr kritisches Nachdenken und Fähigkeiten, Dinge zu verarbeiten."

Slenderman ist nur eine Legende, deren Hintergrund man googeln kann, doch diese Information geht schnell unter. Denn außerhalb einer kleinen Nische kennt kaum jemand die Webseite Something Awful, wo das Mem entstanden ist. Später verbreitete sich Slenderman hauptsächlich über die Webvideo-Serie Marble Hornets auf Youtube.

Viele Kinder halten Slenderman für real

Die Mini-Folgen dauern eine Minute und erinnern stilistisch an den Horrorfilm Blair Witch Project. Teilweise haben sie deutlich mehr als eine Million Menschen erreicht. Die Serie entwickelt das ursprüngliche Mem weiter. Marble Hornets entkoppelt Slenderman von Something Awful, es fehlt jegliche Referenz zu seiner Entstehung. Fiktion wird so zur Glaubensfrage. Unter den Videos kann man nicht kommentieren, die Zuschauer müssen selbst erkennen, dass es sich um einen Fake handelt. So erklärt sich, warum insbesondere Kinder Slenderman für real halten.

Nach der Tat der 12-jährigen veröffentlichte Something Awful einen Post mit dem Titel: " Bitte tötet niemanden wegen Slenderman". Darin schreiben die Macher: "Niemand sollte sich reinlegen lassen von Youtube-Videos, wackelnden Kameras und schlechten Photoshop-Bildern von Menschen, die mit Socken über den Köpfen im Wald stehen."

Slenderman ist ein Pop-Phänomen. Es gibt ein eigenes Spiel und die Figur Enderman im Spiel Minecraft, die an den Mythos angelehnt ist. Den beiden Mädchen, heute 14 Jahre alt, drohen 65 Jahre Haft. Der zuständige Richter hat entschieden, das Erwachsenenstrafrecht anzuwenden.

(Mitarbeit: Stefan Plöchinger)

© SZ.de - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: