Ein Buchdeckel des Schriftstellers Ingo Schulze aus dem Jahr 2005 zeigt eine Anleitung zum Roulettespiel. Schulze stammt aus der DDR, er trauert dem Unrechtsstaat nicht nach, er leidet aber am Kapitalismus. Die Grundversorgung der Menschen - Gesundheitswesen, Energiekonzerne, Banken - sollte in Staatshand sein; das forderte er schon vor Jahren. "Unser System wird mehr und mehr von Zockern beherrscht", sagt der Dichter.
Für überzeugte Marktwirtschaftler war das starker Tobak. Fehlentwicklungen, auch Exzesse waren nicht zu leugnen, das schon. Und trotzdem schien das grundsätzlich freie Spiel der Kräfte allen Alternativen überlegen zu sein. Der Staat ist nicht der bessere Unternehmer, und erst im Wettbewerb entwickeln sich die wertvollsten Ergebnisse - diese Annahmen sind die Pfeiler eines Wirtschaftssystems zum Wohle möglichst vieler. Inzwischen wankt selbst bei Anhängern des bestehenden Systems die Gewissheit.
Kaum ein Tag vergeht ohne schlechte Nachrichten aus der Finanzwelt. Razzien bei Frankfurter Großbanken, ein Milliardenbußgeld aus Brüssel, Rekordstrafen in den USA - es kracht gewaltig im Gebälk. Dass es hier weder um lässliche Sünden noch um Einzelfälle geht, wissen viele Akteure in der Finanzbranche selbst. Wenn Führungskräfte wie die beiden Chefs der Deutschen Bank irgendwo auf einem Podium sitzen, schütten sie Asche zuhauf aufs akkurat gescheitelte Haupt. Schwere Fehler seien passiert, klar, unakzeptabel sei manche Geschäftspolitik gewesen.
Eine ganze Branche in Verruf
Ehrlich gemeint ist das meist, und dennoch machen es sich die Herren zu leicht, wenn sie nach ein paar bußfertigen Sätzen rasch zu aktuellen Fragen der Regulierung kommen - und betonen, dass man es aber nicht übertreiben dürfe, dass man die Funktionsfähigkeit der Branche durch zu viel Regulierung gefährden würde. Leider ist es für eine solche Diskussionstaktik fast schon zu spät. Die Vorwürfe, die Enthüllungen, die Fakten kommen so massiv, dass niemand mehr ernsthaft von Ausrutschern reden kann. Mehr und mehr offenbart sich eine organisierte Verantwortungslosigkeit.
Die vielen großen und kleinen Akteure, die Zocker in den Handelsräumen, die in abgeschotteten Welten leben und gegeneinander spielen um die größte Marge, das brutalste Risiko, den coolsten Kick - sie haben sich außerhalb der Gesellschaft gestellt. Ihre Chefs sind nicht minder schuldig, sie haben um der Rendite willen ihre Truppen angetrieben - und hielten das Kasino offen, als längst die Sicherungen durchgebrannt waren.
Sie alle bringen eine ganze Branche mit Hunderttausenden Arbeitnehmern in Verruf, und - schlimmer noch - das ganze Wirtschaftssystem dazu, die vielen Akteure der produzierenden Wirtschaft, die verantwortungsvoll und dem Gemeinwohl verpflichtet sind. Weil aber die Finanzwirtschaft eine so zentrale Rolle im Wirtschaftskreislauf spielt, weil Geld das Schmiermittel jeder modernen Wirtschaft ist, infiziert das kranke System die Wirtschaft insgesamt.
Für die Marktwirtschaft ist Gefahr in Verzug
Die Banker sind auf dem besten Wege, Totengräber eines Wirtschaftssystems zu werden, mit dem doch in der Welt so viel Wachstum und Wohlstand geschaffen worden ist. Schon wird die Marktwirtschaft insgesamt infrage gestellt, schon glaubt selbst der Hoffnungsträger der strauchelnden FDP, Christian Lindner, beteuern zu müssen: "Wir sind keine Kapitalisten." Ein FDP-Chef kein Kapitalist - so weit ist es gekommen.
"Kapitalismus" - bei dem Wort soll eigentlich keiner an Raubtier, Gier, Kasino denken. Sondern an eine Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, die auf Privateigentum an den Produktionsmitteln sowie der Steuerung von Produktion und Konsum über den Preis beruht. Das aber haben die Banker erreicht: dass man sich nicht mehr Kapitalist nennen mag, auch wenn man für ein solches, sozial abgefedertes System ist.
Und das Perfide: Es gibt bisher nicht einmal ausreichend Möglichkeiten, ihnen in den Arm zu fallen. Wenn man das Dutzend große Verfahren gegen ehemalige Banker beobachtet hat, muss man sagen: Den Zockern in den Banktürmen ist kaum beizukommen. Schon die Beweislage ist schwer, die Einordnung ihres Tuns unter einen Straftatbestand wie "Untreue"
in vielen Fällen unmöglich. Für die Marktwirtschaft ist Gefahr in Verzug. Mit bloßen Reuebekundungen ist es nicht mehr getan. Mit dem Ausrufen einer neuen Kultur, dem Lieblingsthema der Deutsche-Bank-Chefs, auch nicht. Die Branche hat keinen Schuss mehr frei. Noch ein Skandal, und es wird so viel Regulierung kommen, dass man die Banken auch gleich verstaatlichen kann.