Serie zur Finanzkrise:"Wir wollten eine Revolution"

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Die Finanzkrise stellte den Kapitalismus infrage. Globalisierungsgegner sahen ihre Chance, das System zu verändern. Zwei Kämpfer erzählen.

Von Kathrin Werner und Markus Zydra

Der Zuccotti-Park ist eine kleine Oase im New Yorker Trubel. Alte Männer spielen Schach. Anzugträger essen ihre Mittagspausen-Sandwiches, umringt von Tauben, die auf die Krümel lauern. Müllsammler sind im Dauereinsatz, der graue Boden ist blitzblank. Eichhörnchen klettern die schmalen Bäume empor, die schon ganz andere Zeiten gesehen haben. Sie haben Zelte und Schlafsäcke voller junger Menschen gesehen, Protestschilder, eine provisorische Küche und schließlich einen Polizeigroßeinsatz, Pfefferspray und Schlagstöcke. Micah White sitzt auf einer der frisch geputzten Granitbänke und schaut sich um in dem sauberen, kleinen Park. "Ganz schön friedlich hier", sagt er. White, heute 36 Jahre alt, ist einer der Initiatoren der Occupy-Wall-Street-Bewegung. Und der Zuccotti-Park, in dem er gerade unter den Bäumen sitzt, war das Zentrum der Proteste, die sich 2011 binnen weniger Tage von dem Platz im Süden Manhattans im Finanzdistrikt auf die ganze Welt ausbreiteten. Es war nach dem Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise, und die Protestler wollten nicht länger in einem Land leben, in dem das eine reichste Prozent der Menschen fast alle Macht hat und die Regierung Banken rettet, statt den Ärmsten zu helfen. "Wir wollten eine Revolution", sagt White. "Wir sind die 99 Prozent!", riefen die Demonstranten damals. Es ist lange her.

Der Ausbruch der globalen Finanzkrise, so verheerend deren Auswirkungen vor zehn Jahren auch waren, hat den Globalisierungskritikern Aufwind gegeben. Die Pleite von Lehman Brothers erschütterte den internationalen Bankensektor. Plötzlich stand der Kapitalismus infrage, und das nicht nur in den einschlägigen Kreisen, sondern in der Gesellschaft. Werner Rätz, 66, lange weiße Haare und weißer Bart, erinnert sich. "Die Krise hat auf Seiten der Regierungen für einen Moment die Fähigkeit ausgelöst, sich etwas anderes vorzustellen, ein anderes Finanzsystem sogar", sagt er. "Doch dann kam schnell der alte Trott. Wir hatten damals gehofft, dass mehr protestiert wird gegen die Rettung der Banken", sagt er. Doch die Finanzkrise habe kein massenhaftes Protestpotenzial erzeugt, sondern Angst. "Die meisten Leute haben befürchtet, auch Opfer der Krise zu werden. Sie haben sich totgestellt."

Rätz war sein Leben lang politischer Aktivist. In den 1970er-Jahren kämpfte er gegen die Diktatoren in Lateinamerika, in der 1980er-Jahren schloss er sich der Friedensbewegung an und demonstrierte für Abrüstung im Ost-West-Konflikt. Er ist zu Besuch in Frankfurt, im Büro des globalisierungskritischen Netzwerks Attac, das er 1998 in Deutschland mitgegründet hat. Der nachdenkliche Mann ist mit dem Zug aus Bonn angereist. Auf dem Bahnhofsvorplatz sieht er die monumentalen Bankentürme; die Symbole der Finanzmacht. Was er bei deren Anblick empfindet? "Das ist Herrschaftsarchitektur mit Welterklärungsanspruch. Das wissen auch die, die es gebaut haben."

Rätz redet mit Bedacht und wählt die Worte sorgsam. Er erlebte, wie Blockupy und viele andere Globalisierungskritiker 2015 in Frankfurt gegen die Eröffnung des neuen Büroturms der Europäischen Zentralbank demonstrierten. Damals brannten Autos, und es gab Schlägereien. Rätz ist gegen Gewalt. Aber er glaubt an die Wirksamkeit von Demonstrationen. "Der Protest bringt etwas, denn man prägt über lange Zeit die öffentlichen Debatten, und irgendwann gibt es dann Schlüsselereignisse, worauf alle kapieren: 'Es muss sich etwas ändern.'" Dazu braucht man viel Geduld. Rätz schöpft seine Kraft aus der Vorstellung, "dass Gerechtigkeit ein unverzichtbarer gesellschaftlicher Kitt ist".

Protest vor der Europäischen Zentralbank in Frankfurt im November 2011: Die Maske wurde zum Symbol der Occupy-Bewegung. (Foto: Kai Pfaffenbach/Reuters)

Auch White und seine Kollegen kämpften 2011 für Gerechtigkeit. Die Herausgeber des linken Magazins Adbusters wollten etwas tun gegen die Macht des Geldes und planten, die Wall Street zu besetzen. Die Aktivisten reservierten die Website OccupyWallStreet.org und ein passendes Twitter-Konto und schickten einen Protestaufruf per E-Mail an die Abonnenten des Magazins. Am 17. September 2011 sollte die Okkupation der Wall Street beginnen, schrieben sie. Die E-Mail verbreitete sich rasant in sozialen Medien wie Twitter und Reddit, andere Protestgruppen fanden Gefallen an der Idee, begannen mit der Organisation und mobilisierten ihre Mitglieder.

Es funktionierte. Am vereinbarten Tag war der Zuccotti-Park, unweit der Wall Street gelegen, voll bepackt mit Zelten und Schlafsäcken. "Es war unglaublich, wie schnell es dann ging", sagt White. "Plötzlich gab es Occupy in Städten um die ganze Welt." Und Umfragen belegten, dass eine Mehrheit der Amerikaner den Occupy-Zielen zustimmte.

"Um Erfolg zu haben, hätte die Bewegung sich radikal ändern müssen."

"Trotzdem sind wir gescheitert", sagt White heute. "Die Zukunft, die wir uns erhofft haben, ist nie gekommen." Es gab viele kleine Gründe dafür, sagt er. Zum Beispiel zogen immer mehr Obdachlose auf den Zuccotti-Platz, das Camp war damit beschäftigt, sich um sie zu kümmern, statt zu protestieren. Medienberichte konzentrierten sich mehr und mehr auf Müll und Kriminalität als auf die Ziele der Bewegung. Außerdem fransten die Ziele immer mehr aus, wurden immer unkonkreter. Aber es gab auch einen großen Grund für das Scheitern, glaubt der Occupy-Ideengeber: "Die Politiker sind nach den Wahlen nicht mehr davon abhängig, dass die Massen ihrer Politik zustimmen", sagt er. "Sie können Protest einfach ignorieren."

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(Foto: Michael Nagle/AFP)

Im September 2011 ziehen Protestmärsche durch den Finanzdistrikt in New York, nachdem die Pleite von Lehman Brothers die Anfälligkeit des Bankensektors offengelegt hatte. Die Arbeit an der Wall Street geht währenddessen weiter.

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(Foto: Andrew Kelly/Reuters)

Zu Beginn konnte die Occupy-Bewegung viele Menschen mobilisieren, die auf die Straße gingen oder den Zuccotti-Park besetzten.

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(Foto: Emmanuel Dunand/AFP)

Die Demonstranten wollten nicht länger in einem Land leben, in dem das eine reichste Prozent der Menschen fast alle Macht hat und die Regierung Banken rettet, statt den Ärmsten zu helfen.

Von New York aus breiteten sich die Proteste in der ganzen Welt aus. In der Finanzmetropole Frankfurt fanden die Demonstrationen vor der Europäischen Zentralbank statt.

White war schon nach wenigen Wochen klar, dass die Besetzung des Zuccotti-Parks enden musste. "Wenn die Bewegung noch hätte Erfolg haben wollen, hätte sie sich radikal ändern müssen", sagt er. Adbusters, sein Magazin, verschickte ein sogenanntes "taktisches Briefing", eine Massen-E-Mail an die 90 000 Freunde des Magazins, und schlug vor, Mitte Dezember eine Party zu schmeißen, das Lager abzubauen, den Sieg zu erklären und anders weiterzumachen, mit einer Serie von Überraschungsangriffen zum Beispiel. Dazu kam es nie. Mitten in der Nacht, nur wenige Stunden nach der Adbusters-E-Mail, räumte die New Yorker Polizei den Zuccotti- Park. Die Bäume, die heute Schatten werfen auf Schachspieler und Mittagesser, sahen Schlagstöcke und Pfefferspray. "Die Bewegung ist dann einfach verschwunden", sagt White. "Die ganze Energie, die wir für die Revolution gebraucht hätten, ist einfach verpufft."

Rätz, der fast doppelt so alt ist wie White, hat das Auf und Ab globalisierungskritischer Arbeit oft erlebt. Er stammt aus einem katholischen Milieu in der Eifel und ist auch jetzt, als Rentner, unterwegs für Vorträge und Diskussionen. Rätz wirkt mit sich im Reinen. Spürt er manchmal Frustration, weil sich so wenig geändert hat? Nein, das Gefühl kenne er nicht. Immerhin hatte der Ausbruch der Finanzkrise ihm und seinen Mitstreitern recht gegeben, denn sie hatten schon lange so etwas befürchtet. "Wir sprachen 2008 nie vom Ausbruch der Krise, sondern von der öffentlichen Sichtbarwerdung der längst herrschenden Krise", sagt er. Die Dominanz der Finanzmärkte gegenüber der Realwirtschaft sei zu stark geworden. Investoren hätten immer häufiger schnelle Profite an der Börse den Erträgen durch Warenhandel vorgezogen. Rätz trieb das früh um, er war bei den Protesten 1985 gegen den Weltwirtschaftsgipfel in Bonn dabei. "Das waren die ersten Ansätze von Globalisierungskritik, nachdem das Bretton-Woods-System aufgegeben worden war und der Liberalismus sich durchgesetzt hatte."

Die Verteilung des Reichtums ist in den letzten Jahrzehnten ungleicher geworden, doch die meisten Menschen bleiben stumm. Warum? "Die Existenz von Ungerechtigkeit reicht nicht zum Aufschrei in Gesellschaften. Der Widerstand muss auch eine Perspektive bieten, dass man an den Erfolg glaubt", sagt Rätz, der den Anfang des bürgerlichen Widerstands in den Studentenprotesten sieht, die sich nun zum 50. Mal jähren. "Das Jahr 1968 steht als Chiffre für den Versuch, die Verhältnisse global zu verändern. Das hat damals andere Gründe gehabt, aber es gibt nach der Finanzkrise auch heute wieder dieses ähnliche Gefühl, man drehe sich im Kreis, dass Probleme reproduziert werden, und die Eliten finden keine Lösung für die von ihnen selbst geschaffenen Widersprüche."

Der Amerikaner White hat nach der Occupy-Aktion ein Buch über Protestbewegungen geschrieben: "Die Zukunft der Rebellion: Eine Anleitung". Heute forscht und schreibt er im Hauptberuf und berät nebenher andere Aktivisten. Die Revolutionäre von heute kritisiert er, weil sie keine wirklichen Revolutionäre seien. Sie wollen nicht das System stürzen, sondern höchstens kleinere Veränderungen erreichen - mit Massendemonstrationen und sonst kaum Plänen, sagt er. "Die Linke ist gut darin, große Versammlungen zu organisieren", sagt er. "Sie ist nicht gut darin, zu erkennen, dass es darauf nicht ankommt. Wir können 20 Jahre lang jedes Jahr groß protestieren, und es würde sich trotzdem nichts ändern." Die Frauenbewegung etwa organisierte die "Women's Marches" rund um die Welt und feierte es, dass Millionen auf die Straße gingen, kritisiert er. "Die Linke ist heute weitgehend gegen Revolution, weil ihr das zu extrem ist. Konsequenz ist, dass man nichts erreicht."

Heute glaubt der 36-Jährige eher an eine Revolution von innen. Protestler sollen sich in Ämter wählen lassen und nach und nach Einfluss gewinnen. "Wir brauchen Kräfte, die die Macht übernehmen und ändern können, wie Entscheidungen getroffen werden. Die Rechten sind besser darin, siehe zum Beispiel Brexit." Er selbst wollte Bürgermeister eines Orts in Oregon an der US-Westküste werden, hat aber verloren.

Was er nicht verloren hat, ist seinen Optimismus. Er glaubt, dass er Teil einer weiteren großen Protestbewegung sein wird. "Die Dinge, gegen die wir damals gekämpft haben, gibt es schließlich immer noch, sie sind sogar noch schlimmer, und sie stören die Menschen", sagt White. "Das Geld kontrolliert die Macht." Und vielleicht, sagt er, hängt in ein paar Jahrzehnten dann ein Revolutionär, der im Amt ist, am Zuccotti-Park eine Occupy-Erinnerungsplakette auf. "Das wäre schön, auch wenn ich eigentlich nichts von Aktivismus-Nostalgie halte."

© SZ vom 16.08.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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