Schokolade:Die stabilste Währung der Welt

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Eine Tafel Schokolade wird wohl nie mehr als einen Euro kosten. Dabei müsste der Preis - gemessen an der Teuerung - längst um ein Vielfaches höher liegen. Ein Streifzug durch die Geschichte der Preise.

Harald Freiberger

Es war Anfang des neuen Jahrtausends, da erzählte ein 15-jähriger Enkel seinem Großvater von einer merkwürdigen Beobachtung. "Opa, ich esse jetzt schon seit mehr als zehn Jahren Schokolade", sagte er. "Aber der Preis für eine 100-Gramm-Tafel ist nie gestiegen, sie kostete immer knapp eine Mark." Da entgegnete der Großvater: "Du wirst Dich wundern, aber das war schon in meiner Kindheit nach dem Zweiten Weltkrieg so, auch da kostete eine Tafel Schokolade eine Mark."

Verbraucher haben genaue Vorstellungen, was eine Tafel Schokolade kosten soll. Darum tricksen die Hersteller beim Gewicht - machen sie beispielsweise leichter als 100 Gramm. (Foto: AP)

Gemeinsam entdeckten Enkel und Großvater damit eines der erstaunlichsten Phänomene im deutschen Einzelhandel: ein Produkt, dessen Preis über Jahrzehnte gleich blieb, das also immun gegen Inflation war, solange es die D-Mark gab. Die Inflation in Deutschland von 1950 bis 2002 betrug nach Angaben des Statistischen Bundesamtes 322 Prozent. Wenn beim Schokoladepreis alles mit rechten Dingen zugegangen wäre, hätte eine Tafel demnach am 31. Dezember 2001, dem letzten Tag der D-Mark, 4,22 Mark kosten müssen. Sie kostete aber nach wie vor eine Mark. Sie war sozusagen die stabilste Währung der Welt, absolut inflationsfrei.

Warum war das so? Robert Weitz, Preisexperte beim Handelsverband Deutschland, hat eine Erklärung dafür: "Der Preis für eine 100-Gramm-Tafel Schokolade ist der hartnäckigste Schwellenpreis, den es im deutschen Einzelhandel je gab", sagt er. Schwellenpreise sind gerade Zahlen, zum Beispiel ein Euro, zehn Euro oder 1000 Euro. Da sie für den Verbraucher etwas Abschreckendes haben, ist es in Läden seit langem gängige Praxis, knapp darunter zu bleiben. Deshalb kosten viele Produkte 0,99 Euro, 9,90 Euro oder 990 Euro. "Schwellenpreise sind ein weit verbreitetes Phänomen", sagt Experte Weitz. "Dass sich ein Schwellenpreis bei einem Produkt aber über Jahrzehnte hielt wie bei der Schokolade, war einzigartig."

Nach wie vor wohl profitabel

Das belegen auch Daten des Statistischen Bundesamtes für andere Nahrungsmittel: So kostete ein Liter Vollmilch im Jahr 1950 genau 0,35 Mark, im Jahr 2002 waren es 1,31 Mark - das ist fast das Vierfache; ebenso groß ist der Anstieg bei einem Kilo Rindfleisch (von 3,25 auf 12,32 Mark). 2,5 Kilo Kartoffeln sind im selben Zeitraum sogar neunmal teurer geworden (von 0,37 auf 3,40 Mark). Selbst solche Grundnahrungsmittel haben damit im Laufe der Jahrzehnte wichtige Preisschwellen überschritten - nur bei der Tafel Schokolade klappte das zum Ärger von Herstellern und Handel nie.

Produzenten wie Nestlé, Ritter Sport oder Stollwerck ließen sich deshalb im Laufe der Jahrzehnte einiges einfallen, um von der 100-Gramm-Tafel wegzukommen. Sie erfanden Schokoriegel, größere und kleinere Tafeln, die alle eines gemeinsam hatten: Rechnete man den Preis auf 100 Gramm um, waren sie deutlich teurer als eine Mark. Diesem Trick war ein gewisser Erfolg beschieden, die Verbraucher kauften die neuen Produktkreationen. Weitz glaubt deshalb, dass die Hersteller nach wie vor profitabel arbeiten, zumal es bei der Produktivität große Fortschritte gegeben habe. "Ein Produkt unter den eigenen Kosten an den Handel weiterzugeben, würde niemand lange durchhalten", sagt er.

Eine andere Erklärung für die Preisstabilität der 100-Gramm-Tafel ist das, was Experten ein "Ankerprodukt" nennen. "Das sind Güter, die jeder kauft und von denen jeder den Preis kennt", sagt Weitz. "Bei ihnen muss der Handel extrem vorsichtig sein." Der Wettbewerb konzentriert sich auf solche Ankerprodukte. Würde ein Laden über einen Schwellenpreis gehen, fiele das den Kunden sofort auf und könnte sie so verärgern, dass sie in dem Geschäft nicht mehr einkaufen. Deshalb lässt es der Handel lieber.

Mit der Einführung des Euro im Jahr 2002 fielen auch die Schwellenpreise. Eine D-Mark entsprach umgerechnet 0,51119 Euro. Es war deshalb spannend zu beobachten, was mit dem Preis für eine Tafel Schokolade passieren würde. Das Ergebnis war zu erwarten: Hersteller und Handel nutzten den Fall des Schwellenpreises für eine deutliche Erhöhung. Innerhalb kurzer Zeit lag der Preis für eine 100-Gramm-Tafel Schokolade deutlich über 50 Cent. Heute kostet sie im Supermarkt in der Regel 79 bis 89 Cent, egal ob Milka, Ritter Sport oder andere Alltagsmarken (Edelprodukte wie Lindt sind deutlich teurer). Der Schokoladepreis ist also der Beweis dafür, dass der Euro ein Teuro ist.

Eine andere, für die Zukunft wichtige Frage aber lautet, was passiert, wenn sich der Schokoladepreis der Ein-Euro-Schwelle nähert. Wird diese Schwelle dann auch wieder so lange halten wie bei der D-Mark? Preisexperte Weitz hält das für gar nicht unwahrscheinlich. Der Preis für den Grundstoff Kakao sei zuletzt zwar stark gestiegen, doch dieser mache nur einen kleinen Anteil des Gesamtpreises aus.

Außerdem gebe es noch einen Puffer. "Wenn es mit dem Kakaopreis weiter nach oben geht, kostet die Tafel halt 95 statt 89 Cent. "Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass der Preis für die Tafel Schokolade unter normalen Umständen über einen Euro geht", sagt Weitz. Und das könnte durchaus noch über viele Jahre so bleiben. Es ist also gut möglich, dass der Enkel, der Anfang des neuen Jahrtausends mit seinem Großvater eine erstaunliche Entdeckung machte, irgendwann mit seinem Enkel ein ähnliches Gespräch führt.

© SZ vom 14.10.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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