SAP:Total logisch

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Der Software-Konzern hat gezielt 120 Menschen mit Autismus eingestellt. Die Bilanz: Genauere Analysen, bessere Absprachen, ein Programmierer, der 40 Millionen Euro einspart - und etwas weniger Höflichkeit.

Von Stefan Mayr, Walldorf

"Das mit dem Augenkontakt ist antrainiert", sagt Daniel Vander Putten. Das war nötig, denn wer es nicht schafft, dem Gegenüber in die Augen zu schauen und den Blick auch zu halten, der hat es schwer in der Arbeitswelt. Vander Putten beherrscht also die Konvention der Normalos. Nachvollziehen kann er sie nicht: "Ich höre mit den Ohren und spreche mit dem Mund", sagt er trocken, "die Augen brauche ich nicht."

Der studierte IT-Experte ist einer von 120 Autisten, die beim Software-Konzern SAP angestellt sind. "Autism at work" heißt das Programm, das 2013 startete. Das Unternehmen aus dem badischen Walldorf verzeichnet heute etliche positive und überraschende Ergebnisse.

So hat sich herausgestellt, dass Autisten vielseitiger einsetzbar sind als gedacht. Ganz nebenbei führte das Programm dazu, dass sich langjährige Angestellte als Autisten outeten. Und ein neueingestellter Programmierer hat seinem Arbeitgeber etwa 40 Millionen Euro eingebracht - er löste ein Problem, an dem alle anderen Kollegen gescheitert waren.

Nur etwa 20 Prozent aller Autisten haben einen Job - obwohl viele gut ausgebildet sind

Der Aufwand für die Integration der andersartigen Menschen hat sich also schon gelohnt. Auch, wenn man mal nur auf die Zahlen schaut. Dabei sind die Autisten längst nicht nur in der IT-Abteilung tätig - sondern auch im Personal- und Finanzbereich, einer sogar in der Kommunikationsabteilung. Ein Autist in der Kommunikation? Wer hätte das gedacht.

"Es gibt nahezu keine Limitierungen mehr", sagt Stefanie Nennstiel, Co-Leiterin des SAP-Autismus-Programms. Weiterer Nebeneffekt des offenen Umgangs mit dem Phänomen: Alleine 2016 outeten sich fünf SAP-Mitarbeiter als Autisten. Nennstiel geht davon aus, dass 2017 weitere Kollegen dazukommen.

Nach Schätzungen sind etwa ein Prozent der Weltbevölkerung autistisch veranlagt - die meisten davon sind Männer. Forscher diskutieren, ob Socrates, Charles Darwin, Albert Einstein, Isaac Newton, Andy Warhol oder auch Steve Jobs Autisten waren. Vielen Autisten wird eine große Konzentrationsfähigkeit, Gründlichkeit oder auch enormes Erinnerungsvermögen zugeschrieben. Mehr als 60 Prozent aller Autisten sind durchschnittlich bis überdurchschnittlich begabt. Aber nur etwa 20 Prozent haben einen Job.

Alle anderen sind arbeitslos, obwohl sie mitunter einen höheren Schulabschluss oder gar ein Studium mit besten Noten vorweisen können. Es ist ein enormes Potenzial, das weltweit brachliegt - wirtschaftlich. Für die Betroffenen bedeutet es, dass sie noch mehr ausgeschlossen werden aus dem sozialen Leben.

Im Hollywood-Film "Rain Man" erkennt Charlie alias Tom Cruise sofort, wie nützlich sein autistischer Bruder Raymond sein kann; dieser hatte nach einem kurzen Blick auf einen Haufen Zahnstocher sogleich deren Anzahl gewusst. Sogleich eilt Charlie mit ihm ins nächste Casino, um beim Black Jack großen Reibach zu machen. Jetzt - fast 30 Jahre nach der Kinopremiere - kommen immer mehr Unternehmen auf die Idee, dass Autisten nützlich sein könnten.

Neben SAP gibt es weitere Firmen, die bewusst Autisten einstellen. Vodafone, Deloitte, Telekom. Die Unternehmensberatung Specialisterne arbeitet sogar ausschließlich mit Autisten. Und die Würzburger Don-Bosco-Berufsschule bildet neben anderen "Menschen in schweren Lebenslagen" auch 40 Autisten aus. "Bei zehn Autisten haben sie zehn unterschiedliche Profile", sagt Schulleiter Harald Ebert. Die gängigen Klischees - oft aus Film und Fernsehen - treffen meist nicht zu. Die Bandbreite des Autismus ist enorm groß - von solchen, die unterdurchschnittlich intelligent sind und wohl nie einen Job bekommen bis hin zum Prüfungsbesten der Bäcker-Innung Mainfranken, der jetzt auch den Meister machen will.

Einen wie Raymond aus "Rain Manhaben sie weder in Würzburg noch in Walldorf. Weltweit gibt es höchstens 100 solcher Savants, die einerseits höchstbegabt, aber andererseits im Alltag überfordert sind. SAP-Mann Daniel Vander Putten etwa ist ganz anders gestrickt: Er gilt als "hochfunktioneller" Autist. Das heißt, seine Stärken können die Schwächen kompensieren, er kommt also gut zurecht.

Man muss bei ihm schon ganz genau hinsehen, um den Autismus zu erkennen. Zum Beispiel, wenn das Gespräch zum Small Talk wird. Dann taucht er komplett ab, beschäftigt sich lieber mit dem Innenleben seines Wasserglases. Auch ein Lächeln zeigt sein Gesicht kaum, nur eine freundliche Offenheit. Zwischendrin sagt er ungewöhnliche Dinge. "Diese Frage würde ich gerne zurückstellen, ich überlege mir parallel, ob mir ein Beispiel einfällt." Dann führt er das Gespräch ganz normal weiter - und zehn Minuten später sagt er mitten im Satz: "Jetzt habe ich ein Beispiel."

Er erzählt dann, wie er in der Schule beim Mathe-Lehrer aneckte, weil er die Aufgabe mit einem anderen als dem vorgeschriebenen Ansatz löste. Seine Grundschullehrerin empfahl ihm die Hauptschule. Jetzt hat er ein abgeschlossenes Studium. Und einen verantwortungsvollen Job in der IT-Sicherheitsabteilung von SAP.

Bevor er angestellt wurde, musste er durch ein Assessment-Center. Das klingt nach knallharter Auslese, kommt den Autisten aber entgegen. Denn in einem klassischen Bewerbungsgespräch tun sich die Kandidaten wegen ihrer Schwächen viel schwerer als wenn sie klare Aufgaben erledigen sollen. "Das war ein Kinderspiel", sagt Daniel Vander Putten. In einem Interview fallen Autisten meist durchs Raster - weil sie etwa Small Talk nicht beherrschen.

Bevor er in seiner Abteilung anfing, gab es zunächst einen Workshop mit den neuen Kollegen. "Es gab schon Berührungsängste, man wusste nicht, was auf einen zukommt", sagt Carmen Graf. Sie betreut die Autisten als Mentorin, die bei Problemen weiterhilft. Zudem steht jedem Autisten in seinem Team ein sogenannter Buddy zur Seite. "Alleine zu wissen, dass es Mentor und Buddy gibt, hilft sehr", sagt Vander Putten. Aber nicht alle Autisten haben sich so problemlos eingefügt. "Es gibt schon mal Kollegen, die mehr Unterstützung benötigen", sagt Mentorin Carmen Graf.

Vander Putten spricht sehr offen über seine Schwächen: "Ich verstehe recht wenig Körpersprache und lege wenig Wert auf soziale Regeln", sagt er. "Wenn die Logik mehr Sinn macht als der Knigge", dann komme es vor, dass er aneckt. "Ich bin dreist ehrlich und lüge ungern, nur damit sich Menschen besser fühlen." Damit muss ein Team erst einmal zurechtkommen.

Wo andere Kritik für sich behalten, sprechen Autisten oft an, was schlecht läuft

Wie sehr man mit dieser Ehrlichkeit anecken kann, weiß Peter Schmidt zu berichten. Der Autist ist Autor des Buches "Kein Anschluss unter diesem Kollegen". Er hatte einst in einer Rundmail sehr akkurat alle Fehler eines Kollegen aufgelistet. Er meinte das nicht böse - und als der Chef ihm vorwarf, er habe ihm einen "Bärendienst" erwiesen, fühlte er sich sogar noch gelobt.

Andererseits kann die Direktheit der Autisten sehr nützlich sein: Wo andere aus Höflichkeit oder Angst Kritik hinunterschlucken, sprechen Autisten offen aus, was nicht gut läuft. Davon kann ein Unternehmen profitieren - wenn der Chef damit richtig umgeht. Das Programm bei SAP ist also keine soziale PR-Aktion, sondern eine Win-win-Situation für alle Beteiligten. "Das rechnet sich", sagt Stefanie Nennstiel vier Jahre nach Programm-Start. "Hauptvorteil ist die extrem gute analytische Denkweise, die Mitarbeiter bringen neue Fähigkeiten in den Konzern", sagt sie. "Und der Teamspirit hat sich verbessert." Es gebe genauere Formulierungen, und man halte sich mehr an Absprachen. Ja, so mancher "Normalo" kann von den neuen Kollegen viel lernen.

Während einige wenige Autisten SAP wieder verlassen haben, spricht Vander Putten von einem "Traumjob". Er habe vor, "in der Karriereleiter aufzusteigen". "Rain Man" hat er nie gesehen - das wird auch so bleiben. "Die Zeit nutze ich lieber vor dem Computer", sagt er. Nach Feierabend setze er sich zu Hause meist vor den PC:"Ich löse komplexe Probleme und experimentiere mit künstlicher Intelligenz."

© SZ vom 27.02.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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