Rettungsschirm für den Euro:Tickende Zeitbombe

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Was Bundeskanzlerin Angela Merkel und die Bundesbank verschweigen: Der Rettungsschirm rettet den Euro nicht - aber er lastet Deutschland ungeheure Risiken auf. Die Höhe der Haftung übersteigt die schlimmsten Ahnungen der Öffentlichkeit.

Hans-Werner Sinn

Mit dem Beschluss über die Rettungspakete sei die Gemeinschaftswährung nun dauerhaft stabilisiert, sagt Bundeskanzlerin Angela Merkel der deutschen Bevölkerung. Davon kann leider überhaupt nicht die Rede sein. Das Rettungssystem ist vielmehr eine tickende Zeitbombe, deren Sprengkraft selbst die schlimmsten Ahnungen der Öffentlichkeit übersteigt.

Hans-Werner Sinn ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Ludwig-Maximilians-Universität in München und Präsident des ifo-Instituts. (Foto: dpa)

I.Die Krise

Die Probleme der GIPS-Länder (Griechenland, Irland, Portugal, Spanien) rühren daher, dass diese Länder schon bei der Ankündigung des Euro Mitte der neunziger Jahre in den Genuss extrem niedriger Zinsen kamen, sich deshalb hemmungslos verschuldeten und Kapital aus anderen Gebieten des Euroraums, vornehmlich aus Deutschland, absogen. Der Kapitalfluss erzeugte in den GIPS-Ländern einen beispiellosen Wirtschaftsaufschwung mit hohen Lohn- und Preissteigerungen, der die Wettbewerbsfähigkeit der Exportindustrie unterminierte und die Importe ankurbelte. Deutschland kam wegen hoher Kapitalabflüsse stattdessen in eine Flaute mit niedrigen Lohn- und Preissteigerungen sowie extrem niedrigen Investitions- und Wachstumsraten. Aus der Flaute entstanden Außenhandelsüberschüsse, weil die Importe zurückgehalten wurden und die preisliche Wettbewerbsfähigkeit der Exporte stieg. Nichts könnte falscher sein als die Aussage von Bundeskanzlerin Merkel, dass Deutschland "wie kaum ein anderes Land" (so in ihrer jüngsten Regierungserklärung) vom Euro profitiert habe.

Mit der Finanzkrise fand die Phase der exzessiven Kapitalströme von Deutschland in die GIPS-Länder ein jähes Ende. Die Kapitalanleger wurden risikobewusster und weigerten sich zunehmend, die riesigen Leistungsbilanzdefizite der GIPS-Länder von über 100 Milliarden Euro pro Jahr zu finanzieren, weil sie den Staatsbankrott fürchteten. Die GIPS-Länder mussten immer höhere Zinsaufschläge zahlen, wenn sie doch noch an privates Geld kommen wollten.

Die Länder hätten nun eigentlich aufhören müssen, über ihre Verhältnisse zu leben, aber den dazu nötigen harten Sparkurs wollte kein Politiker verantworten. Stattdessen versuchte die Politik, die zur Finanzierung des Lebensstandards ihrer Bürger ausfallenden privaten Kreditflüsse durch öffentliche Kredite zu ersetzen. Dies geschah auf fünffache Weise.

1.Zuerst kamen die Kredite von der Europäischen Zentralbank, die im Zuge ihrer "Vollzuteilungspolitik" bereitwillig Geld druckte und verlieh.

Wie sich die Haftungssumme für den Euro-Rettungsschirm zusammensetzt. (Foto: N/A)

2.Die Zentralbank finanzierte ferner die Staatsbudgets der GIPS-Länder, indem sie Staatspapiere kaufte, was Bundesbankpräsident Axel Weber veranlasste, von seinem Posten zurück zu treten. Ein solches Verhalten war der Bundesbank früher wegen der Inflationserfahrungen aus der Weimarer Republik verboten.

3.Damit nicht genug, erlaubte die EZB den nationalen Notenbanken, außerhalb der normalen Geldschöpfung neues Geld zu schöpfen und gegen mindere Sicherheiten an die jeweiligen Geschäftsbanken zu verleihen (ELA, Emergency Liquidity Assistance).

4.Vor allem aber gaben einzelne Zentralbanken, an erster Stelle die Bundesbank, den Zentralbanken der GIPS-Länder über die EZB in gigantischem Umfang Kredite, um den versiegenden privaten Kreditfluss zu ersetzen. Dies geschah unter der technischen Bezeichnung "Target-2-Salden" von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt, ohne Mitwirkung parlamentarischer Gremien und ohne Spuren in der Bilanz der EZB zu hinterlassen.

Diese verhängnisvollen Geschäfte funktionieren wie eine Art Überziehungskredit: Die jeweiligen Zinserträge und -kosten werden über das EZB-System sozialisiert - weshalb die Bundesbank nicht von einer Kreditvergabe sprechen möchte. Tatsächlich aber floss in riesigem Umfang öffentlicher Kredit von Deutschland in die GIPS-Staaten, um dort den Abfluss von Geldern zu neutralisieren. Wenn diese Staaten nicht zurückzahlen können, ist der deutsche Steuerzahler dran; dazu unten mehr.

5.Und nun gibt es die neuen EU-Beschlüsse zur Ausweitung des Rettungsfonds in Luxemburg, die der wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium der Finanzen zu Recht als "Besorgnis erregend" bezeichnet. Der Fonds wird die europäischen Ungleichgewichte, die durch die überbordende Entwicklung der Preise und Einkommen zustande kamen, verlängern und die Auslandsschulden der GIPS-Länder immer weiter anwachsen lassen. Mit jedem Jahr, während dessen die Kredite der Staatengemeinschaft die versiegenden privaten Kredite ersetzen, entfernt sich das Eurosystem weiter von der Lösung seiner Probleme.

Und Deutschland sitzt nun in der Falle. Denn je mehr Schulden die betroffenen Länder bei anderen Euroländern aufbauen, desto größer ist ihr Drohpotential, wenn es darum geht, eine Transferunion in Europa zu erzwingen. Im Endeffekt wird Deutschland die Schulden der GIPS-Länder an sich selbst zurückzahlen müssen.

Der Wohlstand der Generation unserer Kinder wird auf diese Weise aufs Spiel gesetzt. Es stimmt eben nicht, wenn Kanzlerin Merkel behauptet, Deutschland werde nicht für die Schulden anderer Länder haften. Richtig lag vielmehr die regierungsnahe französische Zeitung Le Figaro, als sie nach dem Vertrag von Maastricht unter Anspielung auf den Vertrag von Versailles jubelte, Deutschland werde nun zahlen.

Für einen erklärten Befürworter des Euro, als der sich der Autor dieses Berichtes noch immer sieht, ist dies eine ernüchternde Feststellung.

Die Rettungssummen haben heute schon Schwindel erregende Größenordnungen erreicht, aber sie werden weiter steigen müssen, wenn Italien notleidend wird, was angesichts der enormen Preis- und Lohnsteigerungen in diesem Land mittelfristig absehbar ist.

Die Grafik oben zeigt, was bislang schon beschlossen wurde und wie Deutschland haftet, sollten die GIPS-Länder insolvent werden. Dabei sind die Kredite der Zentralbank im Rahmen der normalen Geldschöpfungspolitik noch nicht eingerechnet.

1.Das unterste Säulenstück misst die ELA-Kredite der GIPS-Länder, die nach einer Studie der Citibank und unter Verwendung von nach Angaben der irischen Zentralbank schätzungsweise 65 Milliarden Euro betragen. Allein auf Irland entfielen auf diese Weise knapp 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) oder 60 Milliarden Euro. Während die Haftung für fehlende Sicherheiten für ELA-Kredite früher bei der jeweiligen nationalen Notenbank lag, ist sie inzwischen im Eurosystem vergemeinschaftet worden. Sollten die GIPS-Länder in Konkurs gehen, haftet Deutschland mit etwa 33 Prozent oder 22 Milliarden Euro.

2.Das nächste Säulenstück misst die bereits erwähnten Target-2-Kredite. Der Nettobestand dieser Kredite lag zuletzt bei etwa 455 Milliarden Euro. Zu den Kreditnehmern gehören auch Frankreich, Belgien, Österreich, Zypern und die Slowakei. Der Löwenanteil der Kredite, immerhin etwa 340 Milliarden Euro, floss in die GIPS-Länder. Allein bei der Bundesbank ist der Nettobestand der Kreditforderungen von fünf Milliarden Euro im Jahr 2006 auf 321 Milliarden Euro Ende Februar 2011 hochgeschnellt.

Die deutschen Target-Kredite entstanden, weil die Zahlungen für Importe der GIPS-Länder sowie Zahlungen für im Ausland getätigte Finanzanlagen zunehmend nicht mehr zwischen den privaten Banken allein, sondern über das Zentralbankensystem abgewickelt wurden.

Anfangs war nur der Großbetragszahlungsverkehr erfasst, doch inzwischen werden überwiegend kleinere Transaktionen über die Target-Konten abgewickelt. Target-Zahlungen haben grundsätzlich nichts mit dem Prozess der Geldschöpfung zu tun, denn die Menge an Zentralbankgeld im Euroraum wird durch sie nicht verändert.

Es sind indes Kreditbeziehungen zwischen den Notenbanken entstanden, weil die internationalen Zahlungen ohne einen Geldfluss zwischen den Ländern ausgeführt wurden. Während beispielsweise die privaten Firmen der GIPS-Länder die Rechnungen für bezogene deutsche Waren bezahlten und die deutschen Exporteure ihr Geld von der Bundesbank erhielten, leiteten die Zentralbanken der GIPS-Länder das Geld gar nicht über das Zentralbankensystem an die Bundesbank weiter.

Ähnlich war es, als die Vermögensbesitzer der GIPS-Länder begannen, ihr Kapital in andere Länder des Euroraums zu verlagern und zu dem Zweck Überweisungsaufträge gaben. Die Zentralbanken der GIPS-Länder hätten die Target-Salden eigentlich täglich ausgleichen sollen; so war es gedacht.

Das taten sie aber nicht, sondern ließen immer größere Beträge bei der EZB anschreiben, die der Bundesbank daraufhin entsprechende Kreditforderungen gutschrieb. Eine Obergrenze für das Kreditvolumen war bei der Gründung der EZB nicht vereinbart worden, weil man nicht glaubte, dass sich auf dem Kreditkonto nennenswerten Beträge ansammeln würden - was aber nur bis 2006 stimmte ( Grafik).

Das der Bundesbank vorenthaltene Geld verliehen die Zentralbanken der GIPS-Länder gegen geringe Sicherheiten an ihre privaten Banken, weil die Finanzierung über den Interbankenmarkt nicht mehr möglich war. Die Bundesbank möchte die Target-Salden heute nicht als Kredite verstanden wissen, bestätigt aber, dass sie Kreditzinsen für sie kassiert (die in die gemeinsame Verteilungsmasse aller Zentralbanken einfließen).

Ökonomisch handelt es sich indes eindeutig um Kredite, die die Bundesbank der EZB und diese wiederum den Zentralbanken der bedrängten Länder gibt.

Wenn die Target-2-Kredite von den Geschäftsbanken der GIPS-Staaten nicht bedient werden und die GIPS-Staaten mitsamt ihrer Zentralbanken Pleite gehen, haften die restlichen Staaten des Euroraums gemeinschaftlich nach ihren Kapitalanteilen an der EZB. Deutschland haftet dann mit 33 Prozent oder 114Milliarden Euro.

3. Es folgen im Umfang von 77 Milliarden Euro Staatspapierkäufe der Notenbank, für die Deutschland mit 25,9 Milliarden Euro haftet, wenn die GIPS-Länder ausfallen.

4. Sodann ist die Griechenland-Rettung der EU in Höhe von 80 Milliarden Euro zu verbuchen, an der Deutschland mit 22,3 Milliarden beteiligt ist, sowie die parallel dazu gewährte Hilfe des IWF in Höhe von 30 Milliarden, für die Deutschland in Höhe von sechs Prozent oder 1,8 Milliarden Euro haftet.

5. Die vorige Woche beschlossenen Bürgschaften (ESM) an dem Luxemburger Fonds in Höhe von 620 Milliarden Euro und die Bareinlage von 80 Milliarden Euro nehmen Deutschland zu insgesamt 190 Milliarden Euro in die Haftung.

6. Schließlich gibt es noch die vom IWF zugesagten Hilfen in Höhe von 250 Milliarden Euro, an denen Deutschland mit 14,9 Milliarden Euro beteiligt ist.

Summa summarum liegen die Hilfszusagen für bedrängte Euroländer damit bei 1542 Milliarden Euro, und Deutschland haftet mit 391 Milliarden Euro.

Offiziell wird argumentiert, der "Pakt für den Euro" werde sicherstellen, dass größere Haftungssummen niemals fällig werden. Hoffen wir, dass es so ist. Man muss aber bedenken, dass es sich bei den Schuldengrenzen nicht um bindende Verträge handelt, sondern nur um vage politische Absichtserklärungen.

Sie lassen sich durch politische Einflussnahme und Druck dehnen wie Gummi. Zudem verwandeln sich die vermeintlichen Schuldengrenzen angesichts der Weigerung der Märkte, die Außenhandelsdefizite der GIPS-Länder weiter zu finanzieren, faktisch in Verschuldungsrechte, denn man wird einem Land die Gemeinschaftskredite nicht verwehren können, wenn es sich an die gemeinsam beschlossenen Schuldengrenzen hält.

Leider hat es Deutschland versäumt, eindeutige Kreditbedingungen in Form einer klar definierten und rechtsverbindlichen Krisenprozedur auszuhandeln, bevor es sich verpflichtete, die verlangten Bürgschaften zur Verfügung zu stellen. Eine solche Prozedur hätte den Übergang von einer bloßen Insolvenzkrise mit großzügigen Hilfen in den Zustand der drohenden Insolvenz mit einer zwingenden Beteiligung der Gläubiger bei den jeweils fällig werdenden Staatsanleihen bis hin zur vollen Insolvenz mit einem umfassenden Schuldenmoratorium festlegen müssen.

Nicht die weitere Öffnung des Geldhahns, sondern allein eine Prozedur, die seine allmähliche, kontrollierte Schließung sicherstellt, kann Europa jetzt noch retten. Der Pakt für den Euro und der sogenannte Europäische Stabilitätsmechanismus aber schwächen den Euro, unterminieren den Zusammenhalt Europas und gefährden das europäische Einigungswerk.

© SZ vom 02.04.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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