Walter Riester wird am 27. September 1943 in Kaufbeuren im Allgäu geboren. Nach der Meisterprüfung als Fliesenleger besucht er die Akademie der Arbeit in Frankfurt am Main. Bereits als 14-Jähriger tritt er in die Gewerkschaft ein. Neun Jahre später wird er SPD-Mitglied. Von 1976 bis 1998 sitzt Riester in Aufsichtsräten großer Unternehmen wie Daimler, Thyssen und Bosch. Fünf Jahre lang ist er Vize-Chef der IG Metall, von 1998 bis 2002 Bundesarbeitsminister. Sein größter politischer Erfolg ist die nach ihm benannte Riester-Rente, eine staatlich geförderte Zusatz-Vorsorge fürs Alter.
Sein Abgeordnetenzimmer im Bundestag ist höchstens ein Drittel so groß wie früher sein Ministerbüro. Also ziemlich klein. Platz haben: Schreibtisch, Stuhl, Regal, Fernseher und ein trotz Machtverlusts fröhlicher Politiker, der den verspäteten Erfolg der Riester-Rente genießt. An der Wand eine Luftaufnahme seines Ferienhauses in Kärnten. Die Fliesen hat er damals als Minister selbst verlegt, im Urlaub. Für den gelernten Fliesenleger Ehrensache.
SZ: Sie waren Minister und Vizechef der weltgrößten Industriegewerkschaft. Was war Ihr lukrativstes Jobangebot?
Walter Riester: Das beste Angebot kam aus Wolfsburg, 1993. Der damalige VW-Chef Ferdinand Piëch war in Spanien beim Autotesten, als er mich anrief und sagte: Ich möchte Sie haben! Als Personalvorstand.
SZ: Fühlten Sie sich geschmeichelt?
Riester: Das war mehr als schmeichelhaft. Piëch nannte VW den größten Sanierungsfall der Bundesrepublik. Rein rational müsse man die Wolfsburger Werke mit ihren 64.000 Beschäftigten schließen. Das wäre aber katastrophal für die Menschen, sagte er. Den Neuanfang wollte er mit José Ignacio Lopez schaffen. Und mit mir, damals Bezirksleiter der IG Metall in Baden-Württemberg.
SZ: Wie hoch war der Posten dotiert?
Riester: Über Geld haben wir nicht gesprochen. Als Piëch mein Zögern bemerkte, schickte er mir einen Vertrag zu, von ihm unterzeichnet. Den habe ich heute noch zu Hause liegen. 1,5 Millionen Mark hätte ich im Jahr bekommen.
SZ: Viel Geld. Damals verdienten Manager in den Dax-Konzernen weit weniger als heute. Sie bekamen als IG-Metall-Vize gut 250.000 Euro, später als Minister sogar weniger. Warum haben Sie nicht unterschrieben?
Riester: Die Aufgabe hat mich gereizt, das Geld weniger. Ich sagte zu meiner Frau: Was wir brauchen, können wir uns auch ohne den VW-Job leisten. Wenn ich da anfange, vererben wir unserem Sohn mehrere Millionen. Wäre das gut für seinen Charakter? Hundertprozentig nicht.
SZ: Deshalb haben Sie abgesagt?
Riester: Nein. Während ich verhandelte, wurde bekannt, dass IG-Metall-Chef Franz Steinkühler als Daimler-Aufsichtsrat an Insidergeschäften mit Aktien verdiente. Als er zurücktrat, war für mich klar: Ich kann jetzt nicht auch noch von der IG Metall weggehen. Ich habe dann für VW Peter Hartz vorgeschlagen.
SZ: Seien Sie froh, dass Sie nicht VW-Personalchef wurden. Sonst hieße die Sozialhilfe statt Hartz IV heute Riester IV und die Schlagzeilen der Boulevardpresse: "Armutsfalle Riester IV".
Riester: Das hätte mir nicht gefallen.
SZ: Hätte es unter einem VW-Personalchef Walter Riester bezahlte Lustreisen von Betriebsräten mit Prostituiertenbesuchen auf Konzernkosten gegeben?
Riester: Ganz sicher nicht. Mit so etwas macht man sich total angreifbar.
SZ: Sie hätten ja nicht mitmachen, sondern nur für die anderen zahlen müssen.
Riester: Ich hätte nicht gesagt, dass könnt Ihr nicht machen, weil Ihr verheiratet seid. Das muss jeder selbst entscheiden. Aber ich hätte versucht aufzuzeigen, dass man sich in zu große Abhängigkeit vom Unternehmen begibt, wenn man sich das bezahlen lässt.
SZ: VW musste ja die Kosten senken. War dieses System der bezahlten Lustreisen notwendig, um den Betriebsräten unangenehme Entscheidungen abzuringen?
Riester: Da bin ich sicher: nein! Ich hätte die selben Entscheidungen durchgesetzt - dieses System war unnötig.
SZ: Ihr früherer Boss Steinkühler mit seinen Aktiengeschäften, die Lustreisen der VW-Betriebsräte mit Klaus Volkert an der Spitze, früher die raffgierigen Bosse bei der Immobilienfirma Neue Heimat. Warum passiert es immer wieder, dass Arbeiterführer beim Geld maßlos werden?
Riester: (denkt lange nach) Darauf gibt es keine schnelle Antwort.
SZ: Ist die Verlockung des Geldes zu groß für Gewerkschafter, die aus einfachen Verhältnissen stammen?
Riester: Das ist zu einfach. Als Gewerkschafter wächst man im Unternehmen in ein System hinein, in dem sich alle bedienen. Dinge, die man kritisch sah, betrachtet man plötzlich als alltäglich. Der Klaus Volkert wollte auf Augenhöhe mit den Managern sein. Auch beim Geld.
SZ: Haben Arbeiterführer noch eine besondere moralische Verpflichtung gegenüber den Beschäftigten?
Riester: Als Gewerkschafter kann man denken: Bei Tarifverhandlungen hole ich Milliarden für die Arbeitnehmer heraus. Also habe ich das hohe Gehalt verdient. Manager sagen ja auch: Ich habe einen so großen Mehrwert der Firma bewirkt, dagegen ist mein Gehalt ein Nasenwasser.
SZ: Haben Sie Gewerkschafter erlebt, die wegen ihres Gehalts und Status abhoben?
Riester: Ja. Ein ehemaliger Kollege ließ sich von seinem Fahrer immer die Aktentasche nachtragen. Ich sagte zu meinem Fahrer: Sag' mir bitte sofort, wenn ich so anfange. Ich finde es grässlich, wenn einer so etwas tut. Vor allem Menschen aus ärmlichen Verhältnissen können oft mit der neuen Situation in einem Spitzenjob nicht umgehen. Diese Aufsteiger protzen gerne mit dicken Zigarren.
SZ: Wie Gerhard Schröder?
Riester: Eher andere. Ich kenne Ex-Minister, die nach ihrer aktiven Zeit um Personenschutz für sich kämpfen, obwohl ihnen keine Sau etwas tun will.
SZ: Wird man als Politiker dem Alltag normaler Menschen entwöhnt?
Riester: Absolut.
SZ: Haben Sie als Minister so wie Hans-Dietrich Genscher dem Referenten das Bezahlen überlassen, weil sie keine eigene Brieftasche hatten?
Riester: Ich habe immer auf meine eigenen Brieftasche bestanden...
SZ: ... die Sie aber schon mal vergessen hatten, wenn Sie mit einem Journalisten beim Frühstück saßen.
Riester: Das war wohl eine Ausnahme.
SZ: Sie kommen aus ärmlichen Verhältnissen. Als Sie vier Jahre alt waren, trennte sich Ihre Mutter von Ihrem Vater, der untreu war. 1947, da litt Deutschland noch unter Kriegsfolgen.
Riester: Das Geld war sehr knapp. Meine Mutter und ich wohnten in einem Zimmer zur Untermiete. Sie verdiente in einer Stanzerei 90 Mark im Monat. Lange Zeit gab's bei uns nur Kartoffelpüree und Tomaten zum Abendessen. Immer Kartoffelpüree und Tomaten. Mein Eldorado war die Straße, da fühlte ich mich nicht arm, da boxte ich mich durch.
SZ: Wie ging es auf der Straße zu?
Riester: In meinem Zeugnis stand: "Seine Rauflust gibt zu Klagen Anlass."
SZ: Mit 13 Jahren machten Sie eine Lehre als Fliesenleger für 75 Mark im Monat. In Ihrer Autobiografie schreiben Sie, Sie mussten Zementsäcke schleppen und wurden als Hilfsarbeiter ausgebeutet, statt ausgebildet zu werden.
Riester: Als ich so ausgebeutet wurde, protestierte meine Mutter beim Meister. Der hat die schweren Jobs einfach auf einen anderen übertragen. Daraus lernte ich: Es reicht nicht, alleine zu kämpfen. Arbeiter müssen zusammen kämpfen.
SZ: Verzichteten Sie deshalb mit 27 Jahren auf die Hälfte ihres Fliesenleger-Gehalts, um für 1300 Mark im Monat Jugendsekretär des Deutschen Gewerkschaftsbundes in Stuttgart zu werden?
Riester: Das war einer der Gründe. Außerdem wollte ich zum ersten Mal in meinem Leben richtig lernen und las extrem viele Bücher. Ich wollte auf einmal den Sinn des Lebens für mich erforschen, nachdem ich mich in der Kindheit nur auf der Straße durchsetzen wollte.
SZ: Trotzdem: Sie halbierten Ihr Gehalt, obwohl Sie Frau und Kind zu versorgen hatten. Gab es zu Hause Stress?
Riester: Nein.Wir mussten uns nur angewöhnen, mit weniger auszukommen.
SZ: Als IG-Metall-Vizechef haben Sie dann etwa 250.000 Euro im Jahr verdient. Was löst das bei einem aus, wenn man als Lehrling mit sehr wenig Lohn anfing und plötzlich so viel verdient?
Riester: Eigentlich wenig. Was Geld angeht: Ich wollte nie abhängig, sondern immer frei sein. Für einen Fernseh-Werbespot sollte ich mal drei Sätze sagen, warum ich die private Altersvorsorge via Riester-Rente gut finde. 100.000 Euro hätte ich bekommen. Ich habe aber abgelehnt, weil mir klar war, dass ich die Werbung nicht von meiner Aussage trennen kann. Geld ist mir eben nicht so wichtig.
SZ: Sagen Sie. Andererseits schlagen Sie aus der späten Popularität der Riester-Rente Kapital. Allein im ersten Halbjahr 2007 haben Sie ein Dutzend Vorträge für mindestens je 7000 Euro gehalten. Außerdem haben Sie Abgeordnetendiäten und eine Ministerpension. Brauchen Sie das Geld aus den Vorträgen?
Riester: Nein.
SZ: Spenden Sie es?
Riester: Ich spende Geld, aber jetzt nicht extra deswegen.
SZ: Sie kassieren Geld für die Riester-Rente, die Sie selbst politisch durchgesetzten. Hat das keinen Beigeschmack?
Riester: Nein. Ich bin in der glücklichen Situation, ein Gesetz außerhalb des Parlaments zu vertreten. Wenn alle Gesetze so populär wären wie die Riester-Rente, dann hätten die Menschen eine positivere Einstellung zur Politik.
SZ: Ihre Vorträge müssen ja gut 200.000 Euro im Jahr bringen.
Riester: Ich würde auch umsonst reden.
SZ: Warum lassen Sie sich bezahlen?
Riester: Wenn man mir 7000 Euro anbietet, sage ich nicht, dass ich nur 4000 Euro oder gar nichts wert bin. (Verlegen) Mein Name ist halt ein positiver Werbeträger (steht auf und nimmt zwei Sparschweine aus dem Regal) Zum Beispiel wirbt die Allianz für ihre Produkte mit dem Riester-Schwein mit Doppelschlitz. Und die DWS: Das Riester-Schwein mit Dreifachschlitz (auf den Schlitzen steht: Sparer, Rendite, Staat). Witzig, oder?
SZ: Die Riester-Rente galt anfangs als bürokratischer Flop.
Riester: Das hat mich sehr gestört.
SZ: Joschka Fischer sagt: Riester hat mit dieser deutschen Lebenslüge aufgeräumt, dass die Rente auch für die junge Generation noch sicher sei.
Riester: An der Botschaft "Die Rente ist sicher" war eines total falsch: Sie hat den Bürgern suggeriert, dass sie keine zusätzliche Vorsorge fürs Alter leisten müssen und trotzdem ihren Lebensstandard halten können. Wir aber leben länger und haben höhere Ansprüche als unsere Großeltern. Das kostet einfach Geld.
SZ: Noch als Arbeitsminister ließen Sie sich von Ihrer Frau mit einer Maschine die Haare schneiden. Wollten Sie sich die paar Mark für den Friseur sparen?
Riester: Bei meinem Kurzhaarschnitt hat das nichts mit Geld zu tun. Es ist einfach praktisch.
SZ: Die Bild-Zeitung druckte ein Foto von Ihnen mit der Haarschneidemaschine. Die Friseurinnung beklagte, dass der Arbeitsminister auf die Arbeit der Friseure verzichtet. Sie mussten klein beigeben.
Riester: Ich bekam rotzige Briefe. Da sagte ich mir, jetzt oute ich mich total: Ich putze auch meine Schuhe selber!
SZ: Sind Sie geizig?
Riester: Sparsam. Aber ich gehe gerne schön Essen. Es macht mir gar nichts, wenn ich für mich und meine Mitarbeiter mal 200 oder 300 Euro ausgebe.
SZ: Die Reallöhne vieler Deutscher sind gefallen oder stagnieren, die Arbeitsplätze unsicherer geworden. Was macht die Globalisierung mit den Deutschen?
Riester: Arm und Reich driften immer weiter auseinander. Der Markt bringt Dynamik, harten Wettbewerb, hat aber kein Empfinden für die Bedürfnisse von Menschen. Es ist die Aufgabe der Politik, einen sozialen Rahmen zu setzen.
SZ: Sie waren 28 Jahre hauptberuflicher Gewerkschafter. Was machen die Gewerkschaften falsch?
Riester: (denkt lange nach) Die Gewerkschaften stellen sich noch langsamer als meine SPD auf die Veränderungen ein. Dabei gibt es so viel zu tun. Der Markt frisst sich immer weiter durch.
SZ: Als Arbeitsminister versuchten Sie, die Globalisierung zu gestalten. 2002 ersetzte Sie Gerhard Schröder von heute auf morgen durch Wolfgang Clement.
Riester: Es war ein schwieriges Gespräch im Kanzlerbüro. Schröder war nahe am Wasser gebaut. Er sagte, seine Frau habe ihn am Wochenende bearbeitet, mich nicht zu entlassen. Aber er sei überzeugt, das Arbeitsministerium ins Wirtschaftsressort zu integrieren. Ich halte das nach wie vor für einen Fehler. Ein Wirtschaftsminister, der Macht über Arbeit und Soziales hat, muss zu stark mit der Wirtschaft zusammenarbeiten.
SZ: Waren die Arbeitsmarkt-Reformen zu wirtschaftsfreundlich?
Riester: Der Arbeitsmarkt ist zu Lasten der Arbeitnehmer und der Sozialkassen ausgefranst. Arbeiter müssen ordentlich entlohnt werden. Und man muss menschlich mit ihnen umgehen. Gerade diesen Eindruck haben viele Menschen in Deutschland nicht mehr.