"Project Gutenberg" und die "Buddenbrooks":Verfall des Urheberrechts

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Das Buch "Die Buddenbrooks" von Thomas Mann steht frei zugänglich im Netz, 2223 Mal wurde es bereits heruntergeladen. Dabei ist das Buch noch zwölf Jahre tantiemenpflichtig.

Von Willi Winkler

Im Humanistischen Gymnasium einer nicht ganz kleinen deutschen Stadt hat man es längst aufgegeben, die Schüler mit der Lektüre längerer Texte zu überfordern. Doch selbst bei einfacheren Etüden, das ist man sich als Gymnasium mit gediegenster Bildungstradition schuldig, wird auf Niveau geachtet. Beim Orthografie-Test, eine besondere Lästigkeit seit der zähen und undurchschaubaren Reform, greift der Lehrer auf einen klassischen Text zurück. Er legt den Schülern den Anfang der "Buddenbrooks" vor. Um ihre Rechtschreibkenntnisse abzuprüfen, lässt er die Kinder die Satzzeichen erst entfernen, und dann sollen sie sie wieder so einfügen, wie es die Orthografie verlangt. Deutsches Gymnasium 2013, aber vielleicht hilft's ja auch.

Papier ist alt, analog, irgendwas von vorgestern. Da die Kinder ohnehin den ganzen Tag am Computer sitzen, werden sie deshalb aufgefordert, zu Hause einfach den Anfang der "Buddenbrooks" aus dem Netz zu kopieren und dann damit zu arbeiten. Thomas Mann steht im Netz und ist damit gemeinfrei? Interessant. Thomas Mann ist 1955 gestorben. In Deutschland gilt eine Schutzfrist von siebzig Jahren nach dem Tod des Autors. Seine Werke sind also 2013 nicht gemeinfrei, sondern noch zwölf Jahre tantiemenpflichtig, und sollten deshalb nicht frei verfügbar sein.

Das Urheberrecht schützt das geistige Eigentum der Autoren und soll deshalb ihre Texte vor einer kostenlosen Nutzung bewahren. Die Website projekt.gutenberg.de, die deutschsprachige Autoren in oft liederlichen Ausgaben, aber immerhin herausbringt, kennt von der überaus produktiven Familie Mann weder Heinrich noch Klaus Mann; der "Zauberberg" (1924 erschienen) von Thomas Mann ist "vorhanden", aber, wie ein Vermerk korrekt verkündet, "bis zum 1.1.2026 gesperrt".

Etwas anders sieht es auf der amerikanischen Partner-Website www.gutenberg.org aus. Dort findet sich tatsächlich der vollständige Roman "Buddenbrooks". Es handelt sich zwar nicht um die Erstausgabe, sondern um eine Lizenz, die 1906 bei der Deutschen Buch-Gemeinschaft herauskam, aber es ist ohne Zweifel jener "Verfall einer Familie", der zuerst 1901 beim Verlag S. Fischer in Berlin erschienen ist; der Rechtsnachfolger S. Fischer in Frankfurt verwaltet bis heute die Rechte, auch diesen Anfang:

",Was ist das. - Was - ist das . . .'

'Je, den Düwel ook, c'est la question, ma très chère demoiselle!'

Die Konsulin Buddenbrook, neben ihrer Schwiegermutter auf dem geradlinigen, weiß lackierten und mit einem goldenen Löwenkopf verzierten Sofa, dessen Polster hellgelb überzogen waren, warf einen Blick auf ihren Gatten, der in einem Armsessel bei ihr saß, und kam ihrer kleinen Tochter zu Hilfe, die der Großvater am Fenster auf den Knien hielt."

Das sind mehr als zehn Zeilen, und der Jurist mag jetzt überlegen, ob die "Nutzung in ihrem Umfang durch den besonderen Zweck gerechtfertigt ist", wie es im Zitatrecht heißt oder vielleicht doch nicht, denn dann wäre das Zitat bereits kostenpflichtig. In den USA wird das vom Urheber abgeleitete Verwertungsrecht noch weit strenger ausgelegt. Deshalb musste John Updike beispielsweise eine Schutzgebühr bezahlen, als er in seinem Roman "Roger's Version" (1986) Cyndi Laupers unsterbliche Zeile "I bop - you bop - a - they bop!" verwendete.

Die Auskunft von Project Gutenberg lautet, dass der bewusste Titel in den USA gemeinfrei sei; was das Copyright in anderen Ländern betrifft, so wird auf deren möglicherweise abweichende Rechtslage verwiesen. Während sie in Deutschland eindeutig ist - Bücher werden erst siebzig Jahre nach dem Tod des Autors frei -, ist sie in den USA etwas komplizierter. Auch dort gilt seit einiger Zeit die Siebzig-Jahre-Regelung, aber ausgenommen davon sind Bücher, die vor 1923 erschienen sind.

Das trifft aber eben nur für die USA zu, und nicht für Deutschland. Project Gutenberg ist eine gemeinnützige Organisation. Sie wurde 1971 von dem Computer-Hippie Michael Hart gegründet mit dem Ziel, möglichst viel Literatur möglichst vielen zur Verfügung zu stellen. Als guter Patriot stellte er als erstes Werk die amerikanische Unabhängigkeitserklärung ins Netz. Nach gut vierzig Jahren führt das Unternehmen mehr als 43 000 Titel; dem Vernehmen nach kommen jede Woche fünfzig weitere dazu.

Neben den "Buddenbrooks", die als Nummer 34881 geführt werden, erscheinen dort noch sechs weitere Titel von Thomas Mann in deutscher Sprache. Den "Tonio Kröger" (1903) gibt es sogar zweifach: einmal in einer gescannten Ausgabe von 1922 mit den Illustrationen von Erich M. Simon und dann, schon frecher, in einer bilderlosen Version, die 1964 als "Schulausgabe" bei S. Fischer in Frankfurt herauskam.

Dürfen die das überhaupt? Beim Fischer-Verlag reagiert man ausweichend und dann empfindlich. "Downloads von Deutschland aus sind in solchen Fällen illegal", erklärt man dort, aber was hilft das schon? Illegal heißt noch lange nicht, dass es niemand tut. Niemand kann einen Franzosen, Kanadier oder Isländer daran hindern, im Internet zu fischen, bis er den Thomas Mann hat, den er nach deutschem Recht nicht bekommt. Das gilt, das Internet kennt da kein Vaterland, natürlich auch für die deutschen Leser, die, aus welchen Gründen auch immer, den Weg in die nächste Buchhandlung scheuen.

Seit sie am 1. Januar 2011 im Netz auftauchten, ist die Nummer 34881 exakt 2223 Mal herunterladen worden. Nicht jeder wird den ganzen Roman am Bildschirm gelesen haben, kaum einer wird die "Buddenbrooks" im Ernst herunterladen und ausdrucken wollen. Papier- und Druckkosten könnten bei 760 Seiten leicht höher ausfallen als die 9,95 Euro, die für die handliche Taschenbuchausgabe zu entrichten wären.

Noch bis in die Achtzigerjahre blühte im Umkreis der Universitäten das Geschäft mit Raubdrucken. Studenten oder studentennahe Personen bündelten Klassiker von Adorno bis Arno Schmidt und verkauften sie für ein Drittel des Preises, der bei Fischer oder Suhrkamp zu entrichten gewesen wäre. Der moderne Raubdrucker druckt nicht mehr, er scannt. Er hat kein finanzielles Interesse; mit kopierten Büchern ist nämlich kein Geld zu verdienen. Illegal ist es trotzdem.

Ist es nicht, sagt Norbert Langkau. "Was wir tun, ist rechtens. Der Server steht in den USA", und wenn in Deutschland jemand nach dem deutschsprachigen Thomas Mann greift, ist das zwar nicht erlaubt, aber nicht seine, des Vermittlers, Schuld. Er hat ihn nur zur Verfügung gestellt.

Der Raubdrucker ist ein 58-jähriger Mathematiker im Hessischen, keine halbe Autostunde vom Fischer-Verlag entfernt. Sein Softwarehaus lastet ihn offensichtlich nicht aus; nebenher macht er Triathlon und hat außerdem, zumeist mithilfe der Wiener Informatikerin Jana Srna, den Bestand von Project Gutenberg um etwa 150 Titel erweitert.

In 25 Minuten verarbeitet er hundert Seiten, die dann mehrfach "gesäubert", also umformatiert und von einer Schar anonymer Helfer Korrektur gelesen und schließlich von Hand in die kompatible HTML-Version gebracht werden, sodass ein Buch der Stärke "Buddenbrooks" leicht auf insgesamt 160 Arbeitsstunden kommt. Und dann? "Dann stelle ich es Project Gutenberg zur Verfügung." Langkau versteht sich als "Herausgeber" und will alte Bücher in neuer Form zugänglich machen. Finanziell lohnt sich das nicht, denn er macht es umsonst. Es genügt ihm schon, wenn er überhaupt heruntergeladen wird. Stolz berichtet er, dass sich unter den hundert am häufigsten heruntergeladenen Titeln auf Project Gutenberg zwei befinden, die er eingespeist hat.

Den Text, den Norbert Langkau als Nächstes ins Internet stellen wird, heißt "Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens". Langkau will die Vorgeschichte des Dritten Reiches verstehen, will begreifen, wie es 1933 zur Machtübernahme gekommen ist, und wo sich wenigstens nachträglich Vorzeichen davon finden.

In dem 1920 veröffentlichten Aufsatz der Professoren Karl Binding und Alfred Hoche sieht er einen Wegbereiter der nationalsozialistischen Tötungsaktion T4, wenn die Autoren den Begriff der Euthanasie entwickeln und dabei hoffnungsvoll schreiben, "eine neue Zeit wird kommen, die von dem Standpunkte einer höheren Sittlichkeit aus aufhören wird, die Forderung eines überspannten Humanitätsbegriffes und einer Überschätzung des Wertes der Existenz schlechthin mit schweren Opfern dauernd in die Tat umzusetzen". Sie kam auch bald, die neue Zeit.

Allerdings existiert der Text bereits im Netz, und zwar unter Aufsicht der Philipps-Universität Marburg. Streng genommen dürfte er dort nicht vor Ablauf des Jahres 2013 erscheinen, denn Hoche ist 1943 gestorben. Und ist es nicht überhaupt längst sinnlos, gegen das allesfressende Internet vorzugehen? Nicht für den Fischer-Verlag, denn es geht um nicht wenig Geld. Die Einnahmen aus dem Urheberrecht Thomas Mann waren immer hoch genug, dass sie erst seiner Witwe, dann seinen überlebenden Kindern die Grundausstattung sicherten (Golo Mann starb 1994, Elisabeth Mann Borgese 2002) und sogar noch genug übrig blieb, dass sechs Prozent davon die Rente für die langjährige Sekretärin Anita Naef finanzierten.

Man sei gesonnen, heißt es bei Fischer, "alle möglicherweise geeigneten Maßnahmen zu prüfen". Das klingt juristisch fest entschlossen. In Wirklichkeit sind die Hausjuristen hilflos; gegen den modernen Urheberrechtsmissbrauch können sie nichts ausrichten. Manches der von ihm neu edierten Werke hat der "Herausgeber" Norbert Langkau heruntergeladen und für sein Regal in die traditionelle Buchform gebracht. Die "Buddenbrooks" hat er zwar nicht gelesen, für einen so dicken Roman fehlt ihm einfach die Zeit, aber sein Aufklärungsinteresse ist vielleicht doch größer als das des eingangs erwähnten Gymnasiallehrers, der den Bildungsauftrag so versteht, dass er seine Schüler aus Faulheit?, aus Resignation?, aus Unwissenheit? dazu anleitet, systematisch gegen das Urheberrecht zu verstoßen.

© SZ vom 16.09.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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