An Turniertag 9 kommt es im Rio All-Suite Casino in Las Vegas zum alles entscheidenden "Showdown". Der Deutsche Koray Aldemir und sein US-Kontrahent George Holmes haben in etwa gleich viele Chips, zwischen ihnen türmen sich Geldbündel im Wert von acht Millionen Dollar, es ist das Finale der Poker-Weltmeisterschaft. Holmes geht mit einem Paar Könige "All in" - er setzt alles auf eine Karte. Aldemir selbst hat zwei Paare, Zehnen und Siebenen, doch er zaudert. Er nimmt sich fast drei Minuten für die Entscheidung, blickt dem Gegner in die Augen, zieht sich die Kapuze über den Kopf, streift sich nervös durch die Haare. Dann aber stellt er seine Chips in die Mitte. "Call!" Seine Paare genügen! Aldemir reißt die Arme nach oben. Er ist um acht Millionen Dollar reicher.
Die Bilder der Siegerehrung gingen Mitte November um die Welt. Sie zeigen den gebürtigen Berliner grinsend hinter diesem grotesken Haufen Geld, in die TV-Kameras hält er ein diamantenbesetztes Armband, das "Sieger-Bracelet" im Wert von 500 000 Dollar. Diese Trophäe gewinnt man nicht im Vorbeigehen. Das Hauptturnier der "World Series of Poker" (WSOP) ist das prestigeträchtigste Pokerturnier dieser Welt. Aldemir setzte sich gegen 6650 Spielerinnen und Spieler durch, die allesamt 10 000 Dollar Startgeld bezahlten, darunter etliche Profis. In 51 Jahren Turniergeschichte ist dies vorher nur zwei Deutschen gelungen: Pius Heinz (2011) und Hosein Ensan (2019).
Wildfremde Menschen baten ihn um Geld
Zwei Wochen nach dem Triumph ist der große Trubel verflogen, und Aldemir sitzt vor seinem Laptop in einer Wohnung in Fort Lauderdale, Florida, wo die nächsten Turniere bevorstehen. Er hat zerzauste Haare, seine Stimme klingt rau. "Ich bin erst um 12 Uhr aufgewacht, ich musste dringend mal ausschlafen", sagt er und grinst. Dafür, dass gerade acht Millionen Dollar auf seinem Konto gelandet sind, wirkt der 31-Jährige beängstigend unaufgeregt. Und so erzählt er auch seine Geschichte.
Die Tage nach dem Turnier waren die merkwürdigsten seines Lebens, so versichert er. Tausende Glückwünsche und Presseanfragen prasselten auf ihn ein. In Las Vegas wurde er auf dem Strip nach Autogrammen und Fotos gefragt, die Zahl seiner Follower im Netz hatte sich über Nacht mal eben versechsfacht. Wildfremde Leute baten ihn um Geld. "Koray, Bruder. Ich habe Schulden. Kannst du mir helfen?", schrieb etwa einer. Die Bild-Zeitung berichtete, dass er nach Wien ausgewandert sei, um seine Pokergewinne nicht versteuern zu müssen. "In Wahrheit bin ich schon vor Jahren zum Studieren nach Wien gegangen", sagt Aldemir. "Der ganze Trubel hat sich einfach nur surreal angefühlt."
Aldemir sucht nicht die Öffentlichkeit. Im Gespräch wirkt er angenehm zurückhaltend, fast schon schüchtern. Er wuchs in Berlin in "normalen Verhältnissen" auf, so erzählt er. Seine Mutter kommt aus Niedersachsen, sein Vater ist in den Siebzigern aus der Türkei immigriert. Beide arbeiten in sozialen Berufen. Die Bildung ihres Kindes war ihnen wichtig. Schon früh konnte Koray ungewöhnlich gut lesen und rechnen, die zweite Klasse übersprang er. Er spielte viel Fußball und lebte eine behütete Kindheit in Berlin-Friedenau, das zu den besseren Vierteln der Hauptstadt gehört.
In Wien traf Aldemir seinen Mentor
Poker spielte Aldemir das erste Mal mit Freunden an Silvester 2007,"sie mussten mich überreden", erinnert er sich. Der große Pokerboom war da bereits von den USA bis nach Deutschland herübergeschwappt. Reihenweise Online-Pokeranbieter waren damals emporgekommen, allein hierzulande schätzte man die Zahl der aktiven Spieler auf knapp fünf Millionen. Auch das mediale Interesse war enorm. Stefan Raab zockte von 2006 bis 2016 in der "TV Total Pokernacht" regelmäßig mit Prominenten wie Helge Schneider oder Charlotte Roche. Boris Becker wurde zum Werbegesicht des Marktführers Pokerstars. Die Plattformen machten Milliardenumsätze. Und dann kam 2011 Pius Heinz, ein unscheinbarer 22-Jähriger, der als erster Deutscher den WM-Titel und fast neun Millionen Dollar gewann. Abertausende andere Spieler wollten es ihm nachmachen.
Auch Aldemir zählte zu seinen Bewunderern. Sein Abitur war mäßig verlaufen, "ich hatte mich für vieles nicht so interessiert". Er absolvierte ein freiwilliges soziales Jahr in einem Kindergarten und ging danach zum BWL-Studium nach Cottbus, das er abbrach, und für Psychologie weiter nach Wien. Das Pokern hatte er inzwischen vertieft, er spielte erfolgreich kleinere Turniere und verdiente sich zum Studium etwas dazu. In Wien kam es dann zu einem richtungsweisenden Treffen. Fedor Holz, der später zum zeitweise besten Pokerspieler der Welt werden sollte, fragte in einer Chat-Gruppe nach einem Schlafplatz, worauf Aldemir seine Couch anbot. Die beiden freundeten sich an. Ihre Clique tauschte sich viel über Pokerstrategien aus, gemeinsam reisten sie zu großen Turnieren. Holz wurde in dieser Zeit mit einer fulminanten Siegesserie zum Multimillionär. "Spätestens da wusste ich, dass ich es auch schaffen kann", sagt Aldemir. "Fedors Erfolge waren eine große Motivation."
Das Jahr 2016 brachte auch für ihn den Durchbruch. Er gewann bei einem Turnier in Las Vegas mehr als zwei Millionen Dollar, auf den Philippinen legte er mit einem Turniersieg rund 1,3 Millionen nach. Aldemir war nun in der Weltelite und erspielte Millionen. Sein Studium brach er 2019 ab, "weil die vielen Reisen und die Turniere so viel Zeit kosteten". Dennoch blieb Koray Aldemir in seinem Wiener WG-Zimmer wohnen. "Ich bin ein sparsamer Mensch", sagt er. "Ich habe noch nie großen Luxus gebraucht."
Nachts konnte Aldemir kaum noch schlafen
Wie vielen Profis geht es Aldemir nicht nur ums Geld, sondern auch um den Wettkampf. Er vertritt eine neue Generation von Pokerspielern, die mit den Wildwest-Klischees von halbseidenen Zockern in verrauchten Hinterzimmern nichts gemein haben. Auf Weltklasseniveau gleicht Poker einer Wissenschaft und bedarf jahrelanger Erfahrung. Die meisten Profis sind jung, überdurchschnittlich intelligent und bereiten sich akribisch auf ihre Turniere vor. Sie haben Geduld, Disziplin, Ausdauer und Menschenkenntnis. Sie können strategisch denken und behalten ihre Emotionen im Griff, auch wenn es mal schlecht läuft. Viele Spieler haben vor ihrer Karriere Schach gespielt und schon als Kinder Strategiespiele beherrscht.
Aldemir brauchte all diese Stärken, um die WM zu gewinnen. Mit Pausen verbrachte er täglich bis zu 13 Stunden im Casino. Große Fehler darf man sich nicht erlauben. Einmal stieg Aldemir spektakulär mit einer Straße aus, weil er ahnte, dass sein Gegner eine höhere hatte - nur so blieb er überhaupt im Rennen. Dann bekam er einen Lauf. Die Karten fielen für ihn, er spielte aggressiv, aber kontrolliert, setzte immer wieder erfolgreiche Bluffs. Nach fünf Tagen führte Aldemir das Feld schließlich an, der Druck und die Kameras wurden mit jedem Tag mehr. "Man ist durchgehend voller Adrenalin, und abends kann man kaum noch schlafen. Sogar im Traum spielt man weiter, geht ständig Spielsituationen durch", sagt Aldemir. Experten sagen dazu "Tetris-Syndrom": Menschen stecken derart viel Zeit in eine nervenaufreibende Tätigkeit, dass ihr Denken und ihre Träume davon bestimmt werden. Benannt ist das Phänomen nach dem Videospiel Tetris, bei dem herabstürzende Bauklötze gestapelt werden.
Die Party stieg in einem Nachtclub
Das große Finale hielt schließlich eine romantisch-amerikanische Story bereit. Sein Gegner George Holmes aus Atlanta war zuvor ein Nobody in der Szene, er hatte am siebten Turniertag nur noch "A Chip and a Chair", wie es im Pokerslang heißt, einen Stuhl und einen letzten Chip. Dann aber setzte der 49-Jährige zu einer furiosen Aufholjagd an. Millionen von Amerikanern drückten dem Außenseiter die Daumen. Aldemir wurde zunehmend nervös, weil Holmes immer stärker wurde und sein Vorsprung immer mehr schmolz. Das Drama kulminierte schließlich in dieser letzten, großen Sequenz, in der Aldemir mit seinen zwei Paaren die Oberhand behielt. Holmes bekam letztlich 3,7 Millionen Dollar weniger als der Deutsche.
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Dass sein Sieg eine Poker-Euphorie wie damals Pius Heinz in Deutschland auslöst, ist indes nicht zu erwarten. Die große Begeisterung für Poker hat sich in den vergangenen Jahren etwas gelegt. Die Spieler an den Online-Tischen haben sich durch Lernprogramme und professionelle Coachings extrem verbessert, wodurch sich mit Poker deutlich schwerer Geld machen lässt. Hinzu kommt die rechtliche Situation in Deutschland: Der Bundesfinanzhof hat 2015 entschieden, dass professionelle Spieler 25 Prozent Gewerbesteuer auf ihre Turniergewinne zahlen müssen. Zudem trat im Juni 2021 der neue Glücksspielstaatsvertrag in Kraft. Pokeranbieter müssen seither 5,3 Prozent Steuern auf sämtliche Einsätze zahlen. Einige Anbieter verließen den deutschen Markt daraufhin. Die Zahl der Spieler ist spürbar gesunken.
Koray Aldemir muss sich darüber keine Gedanken machen, in Österreich sind Pokererlöse steuerfrei. Nach seinem Sieg, so wollte es die Tradition, bekam er zwei Nächte lang kostenlos eine Suite im Rio-Hotel in Las Vegas. Aldemir war nach dem Poker-Marathon allerdings derart platt, dass er mit Freunden nur Pizza und ein paar Bier aufs Zimmer bestellte. Die große Party stieg erst am Abend drauf in einem Nachtclub. "Es war die höchste Rechnung, die ich je beim Ausgehen bezahlt habe", verrät er.
Was er denn mit dem restlichen Geld anstellen will? "Ich kann es noch nicht genau sagen." Bis spätestens Weihnachten will Aldemir nach Berlin zu seinen Eltern fliegen, um den Erfolg gemeinsam zu feiern. Ein bisschen wolle er auch spenden und einen Teil in ETFs, Kryptos und eine Immobilie investieren. "Neue Vorhänge brauche ich auch", sagt er und lacht. Und ein paar Fahrstunden. "Ich bin seit zwei Jahren nicht mehr gefahren."