Nahaufnahme:Vor ihm die Sturmflut

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"Wir sind keine Fundis. Aber wir sind mit der Natur verbunden, wir sind hier aufgewachsen." Michael Recktenwald. (Foto: privat)

Michael Recktenwald betreibt ein Restaurant auf der Nordsee-Insel Langeoog. Jetzt verklagt er mit anderen zusammen die EU: Sie verlangen mehr Klimaschutz.

Von Michael Bauchmüller

Natürlich klagt Lüke mit. Lüke, 16 Jahre alt, ist der Sohn von Maike und Michael Recktenwald. "Wenn es irgendwann mal ganz schlimm wird, dann steht er in der Blüte seines Lebens", sagt Michael Recktenwald, 53. "Das Schlimmste kriegen wir selbst ja gar nicht mehr so mit." Das Schlimmste, das sind die Folgen des Klimawandels, die Recktenwalds sehen sie gleich vor der Tür. Am Donnerstag haben sie deshalb Klage eingereicht, beim Gericht der Europäischen Union. Europa, so verlangen die Recktenwalds zusammen mit neun anderen Klägern aus der EU, müsse seine Klimapolitik verschärfen. Und zwar gründlich.

Im "Seekrug" ist dieser Tage viel Betrieb, ständig klingelt das Telefon - Tischreservierungen. Nordrhein-Westfalen hat Pfingstferien, das macht sich gleich bemerkbar; parallel tagt ein Treffen von Notfallmedizinern. Die Geschäfte laufen gut, eigentlich. Seit 1969 betreibt die Familie das Restaurant auf der Nordsee-Insel Langeoog, es liegt nur 50 Meter vom Strand entfernt. "Wir schauen jeden Tag auf das Wasser", sagt Recktenwald. "Wir nehmen das wahr, wie sich das Klima ändert, wie Sturmfluten immer häufiger werden." Mit steigenden Meeresspiegeln werde das Süßwasser zurückgedrängt, das sich unter der Insel befindet. Und ja: Langeoog selbst ist bedroht. Die höchste Erhebung liegt knapp 20 Meter über dem Meer, der Rest könnte irgendwann Opfer steigender Pegel sein. "Wir haben den Eindruck, dass die Öffentlichkeit das ignoriert."

107 Seiten Klageschrift nebst 6000 Seiten Anhänge sollen das ändern. Aufgesetzt hat sie ein dreiköpfiges Anwälte-Team, das von Klimaschutzgruppen wie Germanwatch und Philanthropen unterstützt wird. Das Netzwerk ist groß. Neben den Recktenwalds klagen auch Familien aus Frankreich, Portugal, Rumänien, Italien. Die Probleme sind stets ähnlich: Weil sie von der Natur leben, von Landwirtschaft oder Tourismus, sind sie von den Folgen der Klimakrise direkt betroffen. Und stets geht es um ihre Kinder, denen sie einen Betrieb so hinterlassen wollen, wie sie ihn selbst vorgefunden haben. Es geht, kurzum, um Existenzen. "Unsere Kläger sind schon geschädigt", sagt der Bremer Jura-professor Gerd Winter. "Und ihre Kinder werden noch mehr geschädigt sein."

Winter gehört zu den Anwälten, die auch die Recktenwalds vor dem Luxemburger Gericht vertreten. "Die Politik hat weitgehend versagt", sagt er. "Jetzt ist die dritte Gewalt gefordert."

Einfach wird das nicht. Konkret verlangen die Kläger, die europäischen Klimaziele hochzuschrauben, genauer: jene Gesetze zu verschärfen, mit denen sie in Europa umgesetzt werden sollen. Bisher peilt die EU an, ihre Treibhausgasemissionen bis 2030 um 40 Prozent unter das Niveau von 1990 zu senken. Das reiche nicht, um die Lebensgrundlagen der Kläger zu schützen - nötig seien 50 bis 60 Prozent, sagt Winter. Lange Expertisen von Wissenschaftlern sollen das stützen.

Allerdings betreten Juristen, Kläger und Richter gemeinsam Neuland; einen vergleichbaren Fall gab es noch nicht. Möglich, dass die Klage aus formalen Gründen nicht zugelassen wird, dann würde sie ein Fall für den Europäischen Gerichtshof, die nächste Instanz. Doch selbst wenn die Richter die Sache genauso sehen - Parlament und EU-Staaten müssten das Urteil dann erst umsetzen. Und Europas Klimapolitik ist zäh.

Er und seine Frau, sagt Michael Recktenwald, seien keine Fundis. "Aber wir sind mit der Natur verbunden, wir sind hier aufgewachsen." Jetzt geht es darum, die Insel zu verteidigen, auch für Lüke. Schließlich werde der irgendwann fragen: Was habt ihr eigentlich gemacht? "Zu Recht", findet Recktenwald.

© SZ vom 25.05.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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