Nahaufnahme:Noch viel zu tun

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Katja Urbatsch bestärkt Kinder aus Nicht-Akademikerfamilien, zu studieren, denn in Deutschland fehlt Unterstützung. Dafür erhält sie jetzt das Bundesverdienstkreuz.

Von Theresa Parstorfer

Der Brief kam an einem Donnerstag im Juli. Katja Urbatsch schleppte gerade Umzugskartons von ihrer alten in ihre neue Wohnung in Berlin. Zwischen den Kisten öffnete sie das Kuvert. Ein sehr förmlicher Brief. Ein überraschender, aber auch ein sehr schöner. "Bundesverdienstkreuz" war das wichtigste Wort auf dem schweren Papier. Das sollte Urbatsch verliehen bekommen. Denn seit zehn Jahren setzt sich die 39-Jährige dafür ein, dass Kinder aus Nicht-Akademikerfamilien im Universitätsleben unterstützt werden.

Arbeiterkind.de heißt ihre Initiative, 2008 startete sie als Informationsseite im Internet, heute ist sie eine gemeinnützige GmbH mit finanzieller Unterstützung, unter anderem vom Bundesbildungsministerium, von Stiftungen und privaten Spendern. 24 hauptamtliche Mitarbeiter und etwa 6000 Ehrenamtliche halten Vorträge an Schulen, bieten Mentoring und regionale Gruppentreffen mit dem Ziel an, Jugendliche zu ermutigen, ein Studium zu beginnen, auch wenn sie die ersten in der Familie sind.

Niemals habe sie gedacht, dass die Internetseite einmal zu ihrem Vollzeitberuf werden würde, sagt Urbatsch. "Anfangs war ich mir nicht einmal sicher, ob das tatsächlich ein relevantes Thema ist." Sie meint die Erfahrung, es als Erste an der Uni schwerer zu haben als Kinder, deren Eltern wissen, wie eine Immatrikulation, eine Vorlesung oder eine Hausarbeit abläuft. Urbatsch selbst hat sich oft verloren gefühlt. Etwa wenn sie in Seminaren nicht wusste, was die Fremdwörter hießen, deren Umgang Akademikerkinder bereits am Esstisch lernen wie den Umgang mit Messer und Gabel. "Abends saß ich oft mit dem Wörterbuch da", sagt sie. Mit der Zeit habe sie gemerkt, dass vieles, was einschüchternd klang, nicht unbedingt originell, sondern nur gut verpackt war - dass andere auch nur mit Wasser kochen.

Urbatschs Eltern sind gelernte Bankangestellte. Sie und ihr Bruder begannen etwa zur gleichen Zeit mit einem Studium, Urbatsch gar mit dem "Orchideenfach" Nordamerikastudien. "Unsere Eltern waren nicht dagegen und konnten uns finanziell unterstützen", sagt Urbatsch, "in dieser Hinsicht war ich bestimmt noch privilegiert unter den Nicht-Akademikerkindern". Doch der Gedanke ließ sie nicht los: Wenn sie sich schon fehl am Platz fühlte, wie musste es dann jungen Menschen gehen, denen nicht nur das "kulturelle Kapital", sondern schlichtweg die 400 Euro Semesterbeitrag fehlten? Urbatsch weiß, dass schon der Gedanke an einen Bafög-Antrag den Studienwunsch in weite Ferne rücken lassen kann.

Deshalb entschied sie sich 2008, als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Justus-Liebig-Universität in Gießen, diesem Phänomen einen Namen und eine Plattform zu geben. "Arbeiterkind" - der Begriff wird auch kritisiert. Streng genommen gebe es doch keine Arbeiterfamilien mehr, heißt es oft. "Für mich ist das Wort aber positiver konnotiert als etwa bildungsfern", sagt Urbatsch. Wie relevant ihre Idee, wie weit Deutschland entfernt ist von Chancengleichheit im Bildungssystem, beweist der Erfolg von Arbeiterkind.de. Bereits im ersten Jahr bekam die Plattform den mit 2000 Euro dotierten Engagementpreis der ehemaligen Stipendiaten der Friedrich-Ebert-Stiftung. Das war nur der Anfang.

Das Bundesverdienstkreuz, das Urbatsch am Dienstag mit Helden ihrer Kindheit und Jugend wie Otto Waalkes und Regisseurin Caroline Link entgegennehmen wird, ist für sie ein Beweis dafür, dass sie auf dem richtigen Weg, aber noch nicht am Ziel ist. Denn: Von 100 Jugendlichen aus Nicht-Akademikerfamilien nehmen 27 ein Studium auf. In Akademikerfamilien sind es 79. "Da haben wir noch viel zu tun", sagt Urbatsch.

© SZ vom 01.10.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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