An diesem Montag wird Christian Dustmann in den Flieger steigen und nach Deutschland reisen, in das Land, das er einst verlassen hat. Er wird vom Münchner Flughafen nach Augsburg fahren, zur Jahrestagung des Vereins für Socialpolitik, einem der weltweit größten Zusammenschlüsse von Wirtschaftsforschern. Dort wird Dustmann, Professor am University College in London, selbst ein Migrant, am Dienstag einen Vortrag halten zu jenem Forschungsthema, das ihn fast sein halbes Leben lang begleitet und das seit einiger Zeit die europäische Politik beherrscht: die Ökonomie und Politik der Migration.
Außerhalb der Ökonomenszene kennt den Wirtschaftswissenschaftler in Deutschland kaum jemand. Unter Kollegen aber gilt er als der deutsche Experte schlechthin auf seinem Gebiet. Jetzt, etwa ein Jahr nach dem vorläufigen Höhepunkt der Flüchtlingskrise, sind Dustmanns Erkenntnisse gefragter denn je. Um möglichst effizient auf die Migration von Millionen Flüchtlingen nach Europa zu reagieren, ist die Politik auf Forscher wie ihn angewiesen. "Es gibt beim Thema Flüchtlinge sehr viel Verwirrung in der öffentlichen Diskussion", sagt Dustmann, "auch in der akademischen Debatte."
Die Zahl der Asylanträge liegt auf Rekordniveau
Vor allem gibt es bei dem Thema viele ungelöste Fragen. Allein im vergangenen Jahr wurden in EU-Staaten etwa 1,5 Millionen Asylanträge gestellt, fast doppelt so viele wie zum bisherigen Höhepunkt im Jahr 1992 nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Etwa eine Million Migranten hat Deutschland im vergangenen Jahr aufgenommen, die meisten davon sind Kriegsflüchtlinge. Wie können diese Menschen integriert werden, in die Gesellschaft, den Arbeitsmarkt, wie sollte künftig eine koordinierte EU-Flüchtlingspolitik aussehen? Wie unterscheiden sie sich von den Arbeitsmigranten der Siebzigerjahre, was kann man aus der Vergangenheit lernen?
Es sei entscheidend, sagt Dustmann, welche Perspektive man Migranten gleich am Anfang gebe: "Die ersten Wochen, Monate und Jahre sind extrem wichtig für den Karrierepfad der Geflüchteten." Er und seine Kollegen simulieren zum Beispiel, wie die Unsicherheit darüber, ob und wie lange jemand in einem Land bleiben darf, permanent den Lebenslauf beeinflusst. Gerade in Deutschland lohnt es sich kaum, die Sprache zu lernen oder eine dreijährige Berufsausbildung zu machen, wenn man nicht damit rechnen kann, länger zu bleiben als ein paar Jahre. Viele Asylverfahren dauern zu lange, viele Flüchtlinge wollen sowieso wieder in ihre Heimat zurück. "Man sollte sehr früh entscheiden, ob man Migranten einen Bleibestatus gibt", sagt Dustmann. Am besten schon an den Außengrenzen der EU.
"Das wird nicht die letzte große Migrationsbewegung gewesen sein"
Davon ist die Europäische Gemeinschaft aber weit entfernt. Die politische Krise im vergangenen Jahr hat offengelegt, wie wenig die Flüchtlingspolitik koordiniert ist, wie unterschiedlich die Vorstellungen einzelner Staaten sind und, nicht zuletzt, wie sensibel das Thema besetzt ist. "Der Mangel an Koordination in der europäischen Flüchtlingspolitik ist lediglich ein Warnschuss, diese Politik sehr intensiv zu harmonisieren", sagt Dustmann. "Denn das wird nicht die letzte große Migrationsbewegung gewesen sein."
Als er anfing, bevor er 1992 am European University Institute in Florenz mit einer Arbeit über Gastarbeiter in Westdeutschland promovierte, hatten Kollegen ihn gewarnt: Das sei ein Karrierekiller. Er fand es komisch, dass Ökonomen außerhalb der USA sich kaum mit dem Thema auseinandersetzten. "Damals war das komplettes Neuland", sagt Dustmann. Das änderte sich nur langsam, und er hatte die nötige Geduld. Heute ist sein Thema auch unter jungen Ökonomen populär geworden - nicht zuletzt, weil die Politik so dringend Antworten braucht.