Für ein paar Stunden ist Anu Bradford zurück im alten Leben. Nach ihrem Juraabschluss in Helsinki und einem Masterstudium an der Harvard University arbeitete die Finnin in Brüssel für eine große US-Anwaltskanzlei. "Das Wetter in Belgien hat sich nicht verändert", sagt die 44-Jährige beim Treffen mit Journalisten über den Nieselregen, bevor sie den "Brussels Effect" erklärt. Ihr Buch ist gerade bei Oxford University Press erschienen und wird bereits als Standardwerk bezeichnet. Bradford, die in New York an der Columbia Law School lehrt, beschreibt darin mit klaren Argumenten, dass "die Europäische Union die Welt regiert", wie es im Untertitel heißt.
Niemand sonst sei in der Lage, einseitig wichtige Standards für so viele Bereiche der Wirtschaft zu setzen, an die sich sowohl Firmen als auch Staaten halten müssten, sagt sie. Die Datenschutzgrundverordnung, die seit 2018 unter anderem den Nutzern das "Recht auf Vergessen" gibt, mag Lesern bekannt sein, aber ähnlich wichtig ist die Reach-Verordnung für Chemikalien. Sie trat 2007 in Kraft und gilt trotz enormer Widerstände und Klagen über angeblichen Protektionismus weiterhin.
Dass sich Firmen entscheiden, die strengen und oft teuren EU-Auflagen einzuhalten, hat mehrere Gründe: Sie brauchen den Zugang zu bisher 500 Millionen Konsumenten, und es wäre teurer, Produkte mit verschiedenen Standards herzustellen. In Brüssel gibt es zudem eine fähige Bürokratie, die diese Regeln durchsetzen kann - mit Strafen in Milliardenhöhe. Es hilft auch, dass die Mehrheit der EU-Bürger Märkte eher skeptisch sieht und Regulierung gut findet, etwa bei Nahrungsmitteln und Alltagsprodukten. Bradford schreibt, dass die EU die einheitlichen Standards auch einführte, damit die Europäer das Projekt des Binnenmarkts unterstützen. Die externe Wirkung und der Status als "globaler Hegemon" kamen eher zufällig.
Zudem spielt Washington unter Donald Trump seit dem Rückzug aus den Freihandelsabkommen TTIP und TPP kaum eine Rolle mehr, sodass die EU ein Vakuum füllen kann. Ihren Begriff leitete Bradford übrigens ab vom "California Effect" des Politologen David Vogel. Er beschrieb das Phänomen, dass der bevölkerungsreiche Bundesstaat an der Westküste durch strenge Auflagen, etwa für den Schadstoffausstoß von Autos, den US-Markt prägt. Genau verfolgt Bradford die Diskussion über den Umgang der EU mit künstlicher Intelligenz: "Wie setzt man Standards, ohne Innovationen zu verhindern und so den Rückstand auf die USA und China zu vergrößern?"
Nach Auftritten in London und Paris stellt Bradford ihr Buch in Berlin vor, bevor sie in Brüssel bei Thinktanks, im EU-Parlament und bei der Kommission auftritt. Im Tagungsraum ihres früheren Arbeitgebers nennt sie die Fragen ihrer Skeptiker: Gefährden Chinas Aufstieg und der Brexit nicht den "Brussels Effect"? Peking habe bisher wenig Engagement als Regulierer gezeigt, sagt sie, und wird seine Produkte noch lange auf den EU-Binnenmarkt bringen wollen. Dieser schrumpft zwar gerade um 67 Millionen Briten, aber Bradford hält es für "nahezu unmöglich", dass sich Großbritannien wirklich von den EU-Regeln lösen kann: "Der Brexit wird eher zeigen, wie wirkmächtig der 'Brussels Effect' ist".
Auch andere Krisen hätten ihm nicht geschadet, weshalb die Finnin die Klagen über den Niedergang der EU ablehnt. Im Gespräch zeigt sie sich als EU-Fan. Sie verbringt jedes Jahr mehrere Monate in Europa, ihre Kinder wachsen auf beiden Kontinenten auf. Auch in den USA sei die Zeit vorbei, als ihr Studenten sagten: "Ich nehme kein Europarecht, da könnte ich ja gleich das Recht der Sowjetunion studieren". Gerade der Brüsseler Einfluss auf die Tech-Branche biete Kennern des EU-Rechts nun gute Karrierechancen.