Nahaufnahme:Die großen Fragen

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"Unternehmen und nicht Staaten stellen derzeit die größte unmittelbare Herausforderung für den Datenschutz dar." Michael Sandel. (Foto: Imago)

Harvard-Professor Sandel begeistert mit seinen Thesen zu Datenschutz nicht nur vergeistigte Studenten. In Berlin aber stößt er auf eine deutsche Eigenart.

Von Guido Bohsem

Selbst ein routinierter Redner wie Michael Sandel, 63, kann noch eine Überraschung erleben. Der in Harvard lehrende Philosophie-Professor war am Dienstagabend in Berlin, um über die ethischen Probleme der Digitalisierung zu sprechen, über die Gefährdung der Privatsphäre oder, wie man hierzulande sagt, Datenschutz. Unternehmen und nicht mehr die Staaten, so lautete seine These, sind in den freien Demokratien der Welt die eigentliche Gefahr für den Datenschutz. "Sie stellen die größte unmittelbare Herausforderung für den Datenschutz dar."

Wenn einer wie Sandel so etwas sagt, dann begeistern sich nicht nur ein paar vergeistigte Philosophie-Studenten für die These. Nein, es wird Wirkung haben. Denn Sandel ist wahrscheinlich der erste Digital-Superstar seiner Zunft. Millionen Menschen haben an seinen Online-Kursen teilgenommen. Einzelne Teile seiner Vorlesung über Gerechtigkeit schauten sich etwa sechseinhalb Millionen Menschen auf Youtube an - ein Paradebeispiel für die Massive Open Online Courses (MOOC), offen im Internet angebotenen Universitätskurse.

Doch Sandel ist nicht nur ein Vorreiter einer neuen Bildungsform. Er hat auch dazu beigetragen, sein Fach zu einer coolen Sache zu machen und den Wert der Philosophie für aktuelle Entscheidungen und Diskussionen zugänglich zu machen. Er ist ein gerne gesehener Gast bei der TED-Konferenz, einem der liebsten Foren der digitalen Avantgarde. Zu einer Open-Air-Vorlesung in Seoul kamen 14 000 Besucher.

Die Vorlesungen des Pop-Philosophen haben dabei stets das gleiche Muster. Sandel stellt Beispiele vor, an denen sich die großen ethischen und philosophischen Fragen diskutieren lassen. Oft hat das einen materiellen und auch ökonomischen Bezug. So stellte Sandel vor seinem Ausflug in die Untiefen des Digitalen die These auf, dass sich Amerika von einer Marktwirtschaft zu einer Marktgesellschaft entwickelt, in der von Gesundheit, Bildung und politischer Einflussnahme so ziemlich alles und jedes käuflich ist.

Das Besondere an seinen Vorträgen ist, dass er seine Thesen nicht einfach runterrasselt, sondern quasi live erarbeitet. Er stellt dem Publikum die Fragen und nutzt die Antworten geschickt, um die ihm wichtigen Punkte deutlich zu machen. In Berlin - und das dürfte die Überraschung für Sandel gewesen sein - funktionierte das Konzept nicht so richtig.

Denn Sandels Beispiele waren offenkundig auf die digitalbegeisterte amerikanische Öffentlichkeit zugeschnitten. Auf die Frage "Würden Sie ihre Fitness-Daten preisgeben, wenn Sie dafür einen Rabatt bei der Krankenversicherung bekämen?" dürften die meisten Amerikaner erst einmal positiv reagieren. Die Deutschen, zumindest die anwesenden, musste Sandel während des Vortrags lernen, sind da anders. Weshalb auch etwa 90 Prozent der Zuhörer bekundeten, niemals solche Daten rausgeben zu wollen.

Dieses Muster zog sich durch. Egal, ob es um die Frage ging, ob Uber die Fahrten seiner Kunden live überwachen oder aufzeichnen kann, oder darum, wie ein selbstfahrendes Auto programmiert werden soll, wenn es bei einem Unfall vor der Entscheidung steht, seinen Fahrer zu retten oder lieber doch die drei Fußgänger auf der Straße. Die Deutschen, so scheint es, sind bereits da angekommen, wo sich der Amerikaner Sandel seine Landsleute in der Auseinandersetzung hinwünscht.

"Ich will eine reichere und bessere Art der Diskussion, als wir es derzeit gewohnt sind", fasste er zum Schluss seines Vortrages zusammen. Und: "Wie schlau die Maschinen auch werden, sie können uns nicht die Frage abnehmen, wie wir sie benutzen wollen."

© SZ vom 16.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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