Masken:Eine Million pro Tag

Lesezeit: 5 min

Die Firma Reifenhäuser baute bisher Maschinen für die Vlies-Herstellung. Im Frühjahr stieg sie in die Maskenproduktion ein.

Von Christoph Koopmann

Illustration: Stefan Dimitrov (Foto: N/A)

Die Apokalypse haben sie sich in Troisdorf irgendwie anders vorgestellt, mit Zombies und Pumpguns nämlich, nicht mit Händewaschen und Zuhausebleiben. So steht es zumindest auf einer Postkarte, die irgendwer an das Schwarze Brett im Gemeinschaftsbüro der Entwicklungsabteilung gepinnt hat. Hätten Untote die aktuell um sich greifende Weltuntergangsstimmung verursacht, wären die Menschen hier im Büro machtlos gewesen. Stattdessen aber nötigt ein mikroskopisch kleines Virus die Menschheit zum Händewaschen und Zuhausebleiben, weshalb die Leute von der Unternehmensgruppe Reifenhäuser ihren Anteil daran haben, dass die endgültige Apokalypse bislang zu verhindern gewesen ist.

Denn in diesen Zeiten ist bekanntermaßen alle Welt dazu angehalten, Mund und Nase zu bedecken. Und bei Reifenhäuser schaffen sie die Voraussetzungen dafür, dass überhaupt medizinische Mund-Nasen-Bedeckungen nach FFP-Standard gefertigt werden können. Eigentlich baut Reifenhäuser die Maschinen, mit denen sich die Virus-filternde Vliesschicht für die Masken herstellen lässt. Aber in diesem Jahr, in dem sowieso alles anders ist, stieg die Gruppe mit ihrer Tochterfirma Reicofil selbst in die Maskenvlies-Produktion ein.

Ein halbes Jahr später sitzt Bernd Reifenhäuser in einem Besprechungsraum im Erdgeschoss der Firmenzentrale und erinnert sich an dieses verrückte Frühjahr. Reifenhäuser führt das Familienunternehmen mit seinem Bruder Ulrich in dritter Generation. Er trägt einen schmal geschnittenen blauen Anzug, Maske in der Hemdtasche, und kann sich nach Monaten im Dauerstress etwas entspannter zurücklehnen. Reifenhäuser sagt, dieses Frühjahr sei "schon eine Herausforderung" gewesen. Was er meint: Vom Test- und Entwicklungsbetrieb haben sie die beiden Vlies-Maschinen in der Versuchshalle in ein paar Tagen umgestellt auf 24-Stunden-Produktion, sieben Tage pro Woche, Mitarbeiter aus anderen Bereichen abgezogen, einen Schichtbetrieb organisiert.

Bernd Reifenhäuser, 55, führt seit 2008 das gleichnamige Familienunternehmen in Troisdorf. (Foto: Stephan Brendgen/Reifenhäuser Gruppe)

Reifenhäuser sagt, Deutschland habe medizinische Masken vor der Krise fast ausschließlich in Asien eingekauft, vor allem in China. Blöd nur, dass ausgerechnet da alles dicht machte, als das Virus kam. "Hier gab es praktisch keine Fertigungskapazitäten, um das Land mit genügend Masken auszustatten", sagt Reifenhäuser. Also mussten seine Leute selbst ran. Im Frühjahr lief jeden Tag Meltblown-Vlies für eine Million Masken vom Band.

In Deutschland gab es praktisch keine Infrastruktur für die Maskenproduktion

Die ersten Rollen haben sie noch in Maskenfabriken nach Vietnam verschifft, erst allmählich kamen deutsche Produzenten dazu, die meisten waren nicht vom Fach. Wie auch? Also nähten Autozulieferer und Sportartikelhersteller auf einmal Atemschutzmasken. "Da waren auch viele Glücksritter unterwegs, die das Vlies nur gewinnbringend weiterverkaufen wollten", sagt Reifenhäuser. Die haben sie gleich aussortiert. Als mittelständischer Maschinenbauer hat man ja erstens einen Ruf zu verlieren und zweitens den Kampf gegen ein Virus zu bestehen, das muss schon seriös laufen. Reifenhäuser hat dann erst mal Vlies an die Stadt Troisdorf geliefert. Die Rollen haben sie in einer Turnhalle geparkt, das Vlies zu 50er-Paketen gepackt und an Privatleute gegeben, zum Masken-Selbernähen. Dann ging Vlies an das Konsortium "Fight Covid-19", bei dem Firmen und Forschungseinrichtungen mitmachen, mit Unterstützung des Landes Baden-Württemberg. "Wir wollten mit offiziellen Stellen zusammenarbeiten, damit die Masken am Ende auch da landen, wo sie gebraucht werden", sagt Bernd Reifenhäuser, also in Krankenhäusern, Pflegeheimen und Arztpraxen.

Quasi nebenan hat auch der Kunststoffverarbeiter Innovatec Vlies für Millionen Masken produziert. Die Wirtschaftswoche verlieh Troisdorf deshalb den schönen Titel "Maskenmekka", in dem plötzlich "Goldgräberstimmung" herrsche.

Das ist so falsch nicht, aber bei Reifenhäuser ist es auch vorher schon ganz gut gelaufen. In der Unternehmenszentrale, einem Stahl und Glas gewordenen Bürogebäude-Architektentraum, lässt sich an einer Wand des Foyers die Firmengeschichte im Schnelldurchlauf studieren: 1911 von Anton Reifenhäuser als Schmiede gegründet, nach dem Zweiten Weltkrieg übergeben an die Söhne, die aus der Firma einen international erfolgreichen Kunststoffmaschinenbauer machten.

Unter der dritten Generation Reifenhäuser hat die Unternehmensgruppe heute 1600 Mitarbeiter, 900 davon in Troisdorf, der Jahresumsatz lag - vor Corona - bei etwa 500 Millionen Euro. Im Bau von Maschinen zur sogenannten Kunststoffextrusion ist man "Hidden Champion": Weltmarktführer, und kaum einer weiß davon. In dem Städtchen Troisdorf sind sie, an der A59 zwischen Köln und Bonn, ja tatsächlich ein Stück weit "hidden". Und Kunststoffextrusionsanlagen sind nun auch nicht das, womit sich der Normalverbraucher täglich beschäftigt.

Kunststoffextrusion bedeutet, grob verkürzt gesagt, dass Kunststoffe geschmolzen und in Form gepresst werden. Zum Beispiel in feinste Fädchen, die zusammen zu einem Vlies werden, das in Schutzmasken Viren und andere Bösewichte aus der Atemluft filtert.

Weil diese Fädchen aber erst mal noch nicht so fein sind, wie sie sein müssen, wird der geschmolzene Kunststoff noch feiner geblasen, weshalb man das entsprechende Verfahren "Meltblown" nennt. Damit beschäftigen sich die Menschen in dem Büro mit der apokalyptischen Postkarte recht intensiv. Hier, in der Entwicklungsabteilung, arbeitet Michael Latinski, und als das Gespräch auf sein Thema kommt, ruft er durch den Raum: "Meltblown ist so schön!" Da müssen auch seine Kollegen lachen. Latinski springt auf, er will mal zeigen, wie schön das ist.

Plötzlich hatte der Firmenchef lauter hohe Tiere aus Berliner Ministerien am Telefon

Im "Technikum", der Versuchshalle, steht an der Wand ein Metallschrank. Darin hängen zig Rollen mit Meltblown-Vlies, mal dünn und knickbar wie Papier, mal fluffig wie Watte. Latinski erklärt: "Je weicher der Stoff, desto feiner ist das Material." Die Vliese werden als Filter in Dieselmotoren und Dialysemaschinen verwendet, oder eben in Atemschutzmasken. "Das ist ein geiles Zeug", sagt Latinski.

Die ganz heiße Zeit, in der Reifenhäuser selbst dieses "geile Zeug" produziert hat, ist zwar vorbei. Aber jetzt, da mehr Profis in die Herstellung von Masken in Deutschland und Europa einsteigen, wächst der Bedarf an etwas anderem: den Maschinen, aus denen das Vlies kommt.

Vor der Pandemie waren diese Meltblown-Anlagen bei Reifenhäuser ein Nischenprodukt. Da kam eine Handvoll Anfragen pro Woche, von Vertragsabschlüssen ganz zu schweigen. Doch auf einmal wurden sie regelrecht überrannt. "Von Februar bis April hatten wir etwa 100 Anfragen pro Tag", sagt Bernd Reifenhäuser. Die Vertriebler mussten die Interessenten mit Hilfe eines Fragebogens nach Dringlichkeit sortieren. Auf einmal hatte Reifenhäuser Leute vom Gesundheitsministerium, vom Wirtschaftsministerium in Berlin am Telefon, die ganz hohen Tiere. "Man muss schon sagen: Die Politik hat wirklich ihr Möglichstes getan, angemessen auf den Maskenbedarf zu reagieren", sagt Reifenhäuser.

Von diesen Bemühungen profitiert sein Unternehmen auch: Wer jetzt Anlagen zur Maskenproduktion kauft, kann bis zu 50 Prozent der Investitionskosten aus einem Fördertopf der Bundesregierung erstattet bekommen. Eine Meltblown-Maschine kostet immerhin "einen einstelligen Millionenbetrag", das verrät der Unternehmenschef. So viel zur Goldgräberstimmung in Troisdorf. An Weiberfastnacht Ende Februar haben sie die erste Maschine wegen Corona verkauft, erinnert sich Reifenhäuser. Dann kam die große Welle. Seit Ende Juni werden die Anlagen ausgeliefert, die Wartezeit beträgt wegen der komplexen Konstruktion und der schieren Menge an Aufträgen dreieinhalb Monate. Um das zu stemmen, ist aus der Einzelstückfertigung eine Serienproduktion für die Meltblown-Anlagen geworden. Man habe das nur schaffenn können, weil alle wesentlichen Komponenten im Unternehmen hergestellt werden, sagt Bernd Reifenhäuser.

Der Aufwind für sein Unternehmen sei natürlich schön. "Aber hier geht es darum, dass Deutschland in Zukunft gerüstet ist für Notlagen." Europa wolle künftig unabhängig sein von Unwägbarkeiten auf dem asiatischen Markt. Nicht, dass es beim nächsten Virus das gleiche Theater gibt. "Das können die Regierungen sich gar nicht leisten", sagt Reifenhäuser. Er sieht Europa auf einem guten Weg, bald eigenständiger zu sein in der Produktion von Schutzkleidung, auch wegen der Förderprogramme, die in aller Eile zusammengeschustert wurden.

Nur: Kurzfristig mag der Bedarf an Vliesmaschinen enorm sein. "Aber wenn jeder, der Masken produzieren will, eine hat, dann ist das erst mal vorbei", sagt Reifenhäuser. In Troisdorf bauen sie allerdings nicht nur Maskenvliesanlagen, sondern auch welche, mit denen sich Plastikfolien und Vlies für medizinische Schutzanzüge herstellen lassen. Auch da haben sie zwischendurch auf Produktion umgestellt, im Juni reichte allein eine Charge für 110 Tonnen Folie für Schutzkleidung. Auch diese Maschinen gehen gut weg. Außerdem würden beispielsweise viele Restaurants und Firmen jetzt Luftfilter anschaffen, sagt Bernd Reifenhäuser, die lassen sich ebenfalls mit Hilfe von Troisdorfer Maschinen herstellen. So schnell wird das Geschäft mit Hygiene und Gesundheitsschutz wohl nicht abreißen.

© SZ vom 06.11.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: