Luftverkehr:Überschätzt

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Die Urlauber verreisen in der Pandemie lieber mit dem Auto als mit dem Flugzeug. Das trifft die Airlines hart. Sie haben mit mehr Passagieren gerechnet. Vor allem in den USA drohen harte Einschnitte. Die Zahlen alarmieren. Es könnte zu Massenentlassungen kommen.

Von Jens Flottau, Frankfurt

Noch vor wenigen Wochen herrschte so etwas wie Aufbruchstimmung - wenn es die unter den gegebenen und dramatischen Umständen überhaupt geben konnte. Aber die Sommerferien nahten und mit ihnen die Vorstellung davon, dass bald viele Menschen so großes Fernweh haben würden, dass sie trotz Corona-Pandemie wieder in ein Flugzeug steigen könnten. Die Fluggesellschaften bauten ihre Flugpläne für den Sommer und hoffen seither darauf, dass sich das mit dem Fernweh auch wirklich einstellt.

Das Fernweh mag es zwar tatsächlich geben, aber es gibt erste deutliche Anzeichen dafür, dass die Flugbranche nicht so davon profitiert, wie sie gehofft hat. Statt zu fliegen, entscheiden sich die Sommerurlauber offenbar meistens dazu, mit dem Auto zu fahren oder sie widerstehen dem Fernweh für den Moment und bleiben ganz zu Hause. Denn es ist nicht klar, wie viel tatsächlich am Urlaubsort wegen der Corona-Pandemie möglich ist. Es gibt Ängste in Sachen Ansteckung am Flughafen oder im Flugzeug, und viele haben schlicht kein Geld für teure Reisen.

Viele Airlines nehmen mangels Nachfrage Flüge aus dem Programm. (Foto: Elijah Nouvelage/Reuters)

In den USA, wo sich das Virus rasend schnell verbreitet, gibt es nun auch für den Luftverkehr alarmierende Zahlen. In der vergangenen Woche sank die Zahl der Passagiere um vier Prozent gegenüber der Vorwoche, obwohl das Verkehrsniveau insgesamt mit gut 20 Prozent des Vorjahres sowieso immer noch sehr niedrig ist. Die Airlines waren dabei, die Kapazität auf etwa 50 Prozent und manchmal sogar 60 Prozent hochzufahren - zwei von drei Sitzen bleiben im Durchschnitt an Bord leer. Und nun nehmen sie immer mehr Flüge aus dem Programm oder verschieben den Neustart auf manchen Routen.

Auch in Europa haben die Fluggesellschaften für den Sommer wieder deutlich mehr Kapazität in den Markt gepumpt - Lufthansa will bis September etwa auf 40 Prozent des Vorjahresvolumens kommen und sich dann kontinuierlich steigern. Bis Ende Oktober will sie 90 Prozent der Kurzstrecken- und 70 Prozent der Langstreckenziele wieder anfliegen, mit allerdings niedriger Frequenz. Die Flugsicherungsbehörde Eurocontrol vermeldete für die vergangene Woche einen Rückgang der Starts und Landungen in Europa von nur noch 59 Prozent. Doch viele der Maschinen sind mehr als halb leer. Lufthansa hat wie alle anderen europäischen Anbieter noch keine offiziellen Verkehrszahlen für den Juli veröffentlicht. Doch intern heißt es, die Nachfrage ziehe nicht so schnell an, wie erhofft. Einige wenige größere Märkte laufen ganz gut, aber in der Breite ist die Resonanz enttäuschend. Die Zahl der Passagiere liegt zwar nicht mehr im einstelligen Prozentbereich, aber auch nicht viel darüber. Für den Juni hatte Deutschlands größter Flughafen Frankfurt immer noch einen Rückgang von 90,9 Prozent gemeldet.

"Es herrscht Alarmstufe Rot für die Beschäftigten im Luftverkehr."

Ein wenig mehr Aufschlüsse bieten die Zahlen der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Verkehrsflughäfen (ADV), die alle Airlines abdecken. In der dritten Juni-Woche, als viele Fluggesellschaften inklusive Lufthansa ihr Programm wieder deutlich auszuweiten begannen, lag die Passagiernachfrage bei 7,5 Prozent der Vergleichswoche im Vorjahr. In der vierten Juni-Woche waren es 8,9 Prozent, in der ersten Juli-Woche 15 Prozent und in der zweiten 17,2 Prozent. Klar, ein Aufwärtstrend, aber immer noch ein Einbruch von fast 83 Prozent.

"Es herrscht Alarmstufe Rot für die Beschäftigten im Luftverkehr", so ADV-Hauptgeschäftsführer Ralph Beisel. "Mit einer schnellen Erholung ist weiterhin nicht zu rechnen." Das mit der Alarmstufe war bezogen auf die deutschen Jobs. Sie gilt aber weltweit. Es ist erst gut drei Monate her, seit die amerikanische Regierung im Rahmen des Coronavirus Aid, Relief and Economic Security (CARES) Act der Luftfahrtbranche 61 Milliarden US-Dollar zugestanden hatte, 32 Milliarden davon waren direkte, nicht rückzahlbare Zuschüsse, unter anderem, um Gehälter zu bezahlen. Eine der Bedingungen: Die US-Airlines sollten bis Ende September ihre Belegschaft nur um höchstens zehn Prozent reduzieren dürfen. Doch weil das Geschäft so schleppend läuft, könnten Massenentlassungen zum 1. Oktober folgen. Lufthansa-Partner United Airlines etwa schickte Vorwarnungen an 36 000 Mitarbeiter, fast die Hälfte aller United-Angestellten in den USA. Derzeit verhandelt United mit den Gewerkschaften über freiwillige oder zeitweise Abschiede wie Vorruhestand oder Sabbaticals, um die Zahl der Kündigungen zu verringern. Doch die Lage ist immer noch bedrohlich genug für eine neue Debatte über weitere Milliarden, durch die sich die Airlines ohne Massenentlassungen in das nächste Frühjahr retten könnten, auch wenn der Verkehr nicht wie erhofft anzieht. Was auch immer in den USA passiert, ist von größter Bedeutung für die europäischen Fluggesellschaften. Spätestens ein weiteres milliardenschweres Hilfspaket für die US-Airlines würde die Frage aufwerfen, ob die erste Hilfsrunde in Europa ausreichend war, auch wenn gerade erst ein Monat vergangen ist, seit die Lufthansa-Aktionäre Staatshilfen in Höhe von neun Milliarden Euro durchgewunken haben.

Vor allem aber hängt ihr eigener Wiederaufbau zu großen Teilen vom US-Geschäft ab. Die Hälfte der Lufthansa-Langstreckenflotte wird in normalen Zeiten nur für die Transatlantikstrecken benötigt, die andere Hälfte deckt den Rest der Welt ab. Und auch das stark ausgedünnte Europanetz kann nur dann wieder wachsen, wenn die USA wieder öffnen - die vielen Umsteiger werden benötigt, um die Anschlussflüge wenigstens halbwegs wirtschaftlich zu machen. Doch als die Europäische Union zuletzt wieder Flüge in 18 Nicht-EU-Staaten erlaubte, waren die USA nicht dabei. Und angesichts der aktuellen Infektionszahlen ist mit schneller Besserung nicht zu rechnen. Kritisch wird es spätestens im September, wenn die Lufthansa den Hochlauf bei den Langstrecken angeht. Wenn dann immer noch Quarantäne-Vorschriften für Einreisende auf beiden Seiten gelten, müssen sehr viele Annahmen für die Business-Pläne neu überdacht werden.

© SZ vom 23.07.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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