Lohnuntergrenzen in Deutschland:Streit um die richtige Mindestlohn-Dosis

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Friseure profitieren seit Juni von einem tariflich ausgehandelten Mindestlohn - aber nur, wenn sie in einem tarifgebundenen Betrieb arbeiten. (Foto: Carsten Rehder/dpa)

Wie viel muss ein Arbeitnehmer in der Stunde verdienen, um davon leben zu können? Bei den Sondierungsgesprächen zu den Koalitionsverhandlungen streiten Union und SPD über diese Frage. Und darüber, wer bestimmt, wie hoch ein Mindestlohn sein soll - der Staat, die Tarifparteien oder doch eine Expertenkommission?

Von Sibylle Haas und Thomas Öchsner

Mitte Oktober in einem Friseurgeschäft in Berlin-Mitte. Der Kunde fragt die junge Frau, die seine Haare schneidet: "Und, bekommen Sie jetzt einen Mindestlohn?" Sie antwortet: "Ja". "Und wie viel Geld gibt es zusätzlich?" "Ich habe 300 Euro netto im Monat mehr in der Tasche. Ich finde das echt klasse." Der Kunde denkt: Na also, geht doch.

Die Friseurin in der Hauptstadt profitiert vom neuen Tarifvertrag, auf den sich die Gewerkschaft Verdi und die Vertreter des Friseurhandwerks im Juni verständigt hatten. Er sieht zunächst eine Lohnuntergrenze von 6,50 Euro je Stunde im Osten und von 7,50 Euro im Westen vor. Bis 2015 sollen die Löhne auf bundesweit einheitliche 8,50 Euro steigen. Seit 1. August ist der Tarifvertrag gültig, zumindest in den tarifgebundenen Betrieben, zu denen der Arbeitgeber der Berliner Friseurin gehört.

Noch hat das Bundesarbeitsministerium die Mindestlöhne in diesem Gewerbe nicht für allgemein verbindlich erklärt. Sie gelten also noch nicht für die Betriebe, die keinen Tarif zahlen. Wenn es aber so weit ist, wird es dann in 15 Branchen Deutschlands mit knapp fünf Millionen Beschäftigten allgemein geltende Mindestlöhne geben, für Müllmänner genauso wie für Dachdecker oder Pfleger.

Dieser Flickenteppich von Lohnuntergrenzen hat eine längere Geschichte. Am Anfang war die sogenannte europäische Entsenderichtlinie, die die Bundesregierung 1996 in deutsches Recht umsetzte. Damit wollte die damalige schwarz-gelbe Koalition vor allem "Lohn-Dumping" im Baugewerbe verhindern und ausschließen, dass aus dem Ausland entsandte Mitarbeiter Mini-Löhne erhalten, die in ihrer Heimat gelten.

Schritt für Schritt kamen immer mehr Branchen hinzu. Zuerst handelten die Tarifparteien Mindestlöhne aus. Sind mehr als 50 Prozent der Arbeitnehmer in freiwillig tarifgebundenen Betrieben angestellt, kann das Arbeitsministerium die jeweiligen Lohnuntergrenzen für allgemein verbindlich erklären. Dies hat allerdings zwei gravierende Nachteile: Möglich sind solche Mindestlöhne nur in Wirtschaftszweigen, in denen überhaupt Tarifverträge existieren. Es gibt aber immer weniger tarifgebundene Unternehmen, vor allem im Osten. Außerdem erlauben Tarifverträge teilweise selbst Tiefstlöhne, weil schwache Gewerkschaften lieber etwas statt gar nichts in der Hand haben.

Branchen-Mindestlöhne reichen bis 13,70 Euro

Es spricht jedoch viel dafür, dass sich SPD und Union zusätzlich auf einen allgemeinen bundesweiten Mindestlohn einigen; oder wie in Großbritannien eine Expertenkommission ins Leben rufen, die erstmals eine flächendeckende Untergrenze festsetzt. Wie hoch dieser Mindestlohn ausfallen wird, ist offen. Die SPD will unbedingt mit 8,50 Euro anfangen, einen deutlich niedrigeren Wert werden die Parteimitglieder kaum akzeptieren. Die Branchen-Mindestlöhne beginnen bei 7,50 Euro, die etwa für Leiharbeiter im Osten oder Wachmänner in Niedersachsen gelten, und reichen bis 13,70 Euro für Fachwerker im Bauhauptgewerbe.

Die Arbeitsmarktforscher der Bundesagentur für Arbeit empfehlen der neuen Bundesregierung, einen gesetzlichen Mindestlohn einzuführen. Seit Mitte der Neunzigerjahre öffne sich die Schere bei den Löhnen immer weiter. "Bestimmte Gruppen, insbesondere am unteren Ende der Lohnskala, beziehen heute ein geringeres reales Arbeitseinkommen als vor zehn oder 20 Jahren", heißt es in einem Bericht, den das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) kürzlich vorgelegt hat. Moderate Mindestlöhne könnten dem gegensteuern.

Das geltende System tariflicher Mindestlöhne mit eingeschränkter Reichweite sei keine geeignete Dauerlösung: "Der Vorteil einer gesetzlichen Lohnuntergrenze bestünde darin, starke Verwerfungen im unteren Bereich der Lohnverteilung zu begrenzen und der abnehmenden Tarifbindung Rechnung zu tragen", schreiben die IAB-Forscher. Aus ihrer Sicht könnte ein gesetzlicher Mindestlohn sogar dazu führen, dass sich offene Stellen schneller besetzen ließen, weil sie für Jobsuchende attraktiver würden.

Allerdings dürfe dieser Lohn nicht zu hoch sein, um Einstellungen nicht zu verhindern. Sie empfehlen, dass die Lohnhöhe in einer unabhängigen Expertenkommission bestimmt werde. Vorbild dafür sei die britische Low Pay Commission. Auch sollte er in Ost- und Westdeutschland zunächst noch unterschiedlich hoch sein und damit die unterschiedliche Produktivität berücksichtigen.

IAB-Chef Joachim Möller hat vorgeschlagen, sich dabei an den Lohnuntergrenzen in der Leiharbeit zu orientieren. Diese liegen bei 8,19 Euro im Westen und bei 7,50 Euro im Osten. Zwei unterschiedliche Mindestlöhne sind 23 Jahre nach der deutschen Einheit allerdings nur schwer politisch durchsetzbar.

Richtig dosiert verursacht ein Mindestlohn keinen Schaden

"Gesetzliche Mindestlöhne sind in weltweit mehr als 100 Ländern ein etabliertes Instrument gegen Lohndumping", sagt auch Thorsten Schulten, Tarifexperte des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) in der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung. Das WSI erfasst die Entwicklung der Mindestlöhne in Europa und anderen Staaten.

Jeder fünfte Beschäftigte in Deutschland musste nach der jüngsten Europäischen Lohnstrukturerhebung (2010) mit einem Niedriglohn auskommen, berichtet das WSI. Dies sei weniger als zwei Drittel des mittleren Stundenlohnes. Deutschland habe damit den siebtgrößten Niedriglohnsektor in der EU, erklärt Schulten. Er warnte davor, den Mindestlohn zu tief anzusetzen, da er erst ab einer bestimmten Höhe an wirke. In Rumänen, Estland oder Ungarn lägen die Mindestlöhne nur bei einem Drittel der durchschnittlichen Löhne. Das sei offenbar zu wenig, um große Niedriglohnbereiche zu verhindern.

Möller ist überzeugt, dass ein richtig dosierter Mindestlohn keinen Schaden anrichtet und zum Beispiel viele Friseure in Zukunft ihr Geschäft aufgeben: Ihm sei, sagte er einmal in einem SZ-Interview, nicht aufgefallen, dass im Mindestlohn-Vorzeigeland Großbritannien "die Menschen mit ungepflegten Haaren herumlaufen oder es weniger Friseursalons gibt".

© SZ vom 17.10.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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