Der Autotest im Labor dauert gerade mal 20 Minuten, die Geschwindigkeit beträgt im Durchschnitt zwischen 34 und maximal 120 Kilometer pro Stunde; das Fahrzeug legt dabei umgerechnet elf Kilometer zurück. Ein Viertel der Zeit bewegt sich das Auto gar nicht. Sonderausstattungen, die zusätzlich Treibstoff kosten und zu mehr Emissionen führen, werden nicht berücksichtigt. So wird gegenwärtig in Europa ermittelt, wie viel Kohlendioxid (CO₂) die einzelnen Modelle ausstoßen. Das Problem: Mit dem, was an klimaschädlichem CO₂ wirklich durch den Auspuff kommt, haben die Messergebnisse nicht viel zu tun. Das Testverfahren, genannt Neuer Europäischer Fahr-Zyklus (NEFZ), sei "nicht realitätsnah", räumt das Bundesumweltministerium ein.
Schön für BMW, Daimler und andere Autokonzerne. Sie haben, trotz nach und nach verschärfter Grenzwerte, wenig zu befürchten. Auch nicht durch eine neue Mess-Methode, genannt WLTP (Worldwide Harmonized Light Duty Test Procedure), die international für ehrlichere Resultate sorgen soll. Die CO₂-Werte dürften dann deutlich höher ausfallen.
Ob die Grenzwerte eingehalten werden, soll sich in der EU aber weiter nach den industriefreundlichen NEFZ-Ergebnissen richten. So will es die Bundesregierung. Darauf haben die deutschen Konzerne und ihr Dachverband VDA erfolgreich gedrängt. Während die Regierung in Berlin und die Europäische Union nach der VW-Abgasaffäre bei Diesel-Fahrzeugen den jahrelangen Schwindel mit falschen, geschönten Ergebnissen endlich halbwegs beenden wollen, ist das beim CO₂ nicht in Sicht. Hier darf weiter getrickst werden, zum Wohle der Konzerne. Ihnen bleiben Strafzahlungen erspart, die in die Milliarden gehen könnten.
"Abgestimmt mit BK"
Anders als beim Diesel sind beim CO₂ nicht einmal Messungen auf der Straße geplant. Auch WLTP findet weiter auf dem Prüfstand statt. Obwohl das International Council on Clean Transportation (ICCT), das an den Aufdeckung der VW-Affäre beteiligt war, schon seit Jahren den immer größeren Unterschied zwischen Messwerten im Labor und auf der Straße rügt. Ein Großteil der amtlich verkündeten CO₂ -Einsparungen im Verkehr findet nur auf dem Papier statt, nicht auf der Straße, zeigt eine ICCT-Studie vom September 2014. ICCT, das heißt übersetzt in etwa Internationaler Rat für sauberen Verkehr. Die ICCT-Studie, die 38 Prozent mehr CO₂-Emissionen ausweist als das amtliche NEFZ-Verfahren, wird vom Bundesumweltministerium nicht angezweifelt.
Doch das Umweltressort hat sich schon im Mai 2013 mit dem Verkehrs- und dem Wirtschaftsministerium darauf verständigt, dass das damals bereits geplante neue Testverfahren WLTP nicht zu einer "Verschärfung" künftiger CO₂-Grenzwerte führen dürfe. "Dies ist die abgestimmte Position der Bundesregierung", besagt ein Vermerk vom 31. Mai 2013 aus dem Wirtschaftsministerium, auf dem es heißt: "Abgestimmt mit BK." BK steht für Bundeskanzleramt, also für das Amt von Angela Merkel. Ihre Politik entspricht wortwörtlich dem, was der Verband der Autoindustrie (VDA) fordert: Die Einführung des WLTP dürfe "nicht zu einer Verschärfung der CO₂-Gesetzgebung führen".
Um eine Verschärfung geht es aber überhaupt nicht. Sondern vielmehr darum, was die heutigen und künftigen Grenzwerte überhaupt wert sind. Derzeit sollen Neuwagen in der Regel maximal 130 Gramm CO₂ pro Kilometer ausstoßen. Ab 2020/21 sind im Durchschnitt nur noch 95 Gramm erlaubt, was allerdings je nach Hersteller variieren kann. Bei Daimler (Mercedes) sind es rund 100 Gramm. Mit dem NEFZ dürften die Vorgaben zu schaffen sein.
Doch was ist, wenn nach der neuen Methode WLTP gemessen wird? Ebenfalls im Labor, aber mit höheren Geschwindigkeiten und geringerer Standzeit. Unter Bedingungen, die zu halbwegs ungeschönten Ergebnissen führen könnten. Was ist, wenn die Emissionen plötzlich viel höher ausfallen? Dann kostet das einen Konzern eine satte Strafe: 95 Euro pro Neuwagen und pro Gramm Grenzwert-Überschreitung. Bei Daimler wären das bei zwei Millionen verkauften Fahrzeugen im Jahr und, zum Beispiel, 20 Gramm zu viel gleich 3,8 Milliarden Euro.
Um solche Szenarien zu verhindern, haben Autokonzerne und VDA die Bundesregierung systematisch bearbeitet. Bereits im Juni 2012 wandte sich BMW an das Wirtschaftsministerium in Berlin. Es ging um die 95 Gramm pro Kilometer. "Diesen Zielwert akzeptiert die BMW Group", erklärte der Konzern, der ebenso wie Daimler vorwiegend große, schnelle Autos baut, die mehr Treibstoff schlucken und mehr CO₂ ausstoßen als kleine Fahrzeuge. Die großzügig wirkende BMW-Geste, schärfere Grenzwerte hinzunehmen, hatte freilich einen Haken. Der einfachste Weg für die Unternehmen bestehe darin, "jetzt festzuschreiben", dass die Erfüllung des 95-Gramm-Ziels mit dem "heutigen Zyklus" festgestellt werde. So steht es unter Punkt 4 in einem BMW-Positionspapier, das damals an das Wirtschaftsressort ging.
Im August und November 2012 legte der VDA beim Wirtschaftsministerium nach. Es gelte, das Prüfverfahren NEFZ mit der seiner "Testprozedur" definitiv als Grundlage für die 95-Gramm-Grenze "festzuschreiben". Am 8. Mai 2013 wurde VDA-Präsident Matthias Wissmann, ehedem CDU-Abgeordneter und Bundesverkehrsminister, in einem Brief an den damaligen Wirtschaftsminister Philipp Rösler noch deutlicher. Ein vermeintliches technisches Detail, das CO₂-Messverfahren, sei von "politischer und praktischer Relevanz". Vor dem Hintergrund "drohender Strafzahlungen" solle ein zeitlich geordnetes Verfahren bis und nach 2020 eigentlich selbstverständlich sein, notierte Wissmann. Und regte an, den "aktuellen Testzyklus" einstweilen als Grundlage beizubehalten.
Wissmann lag vor allem das Schicksal von BMW und Daimler am Herzen. Man dürfe das "Premiumsegment" nicht über willkürlich gesetzte Grenzwerte buchstäblich "kaputt" regulieren lassen. Kurz darauf, am 31. Mai 2013, war klar: Die Bundesregierung erfüllt die Wünsche der Autoindustrie. Das alte Prüfverfahren bleibt die Grundlage für die neuen Grenzwerte. Das gilt bis heute. Den Autokonzernen ist das sehr recht, und sie sehen sich im Recht. Man brauche "klare und langfristige Vorgaben seitens der Politik", sagt Daimler. Sollten auf dem Weg zu den 95 Gramm CO₂ "die Bewertungskriterien geändert werden, dann können wir damit nicht einverstanden sein", sagt VW. Der VDA spricht gar davon, dass sich an dem "demokratisch legitimierten CO₂-Ziel" durch einen neuen Test-Zyklus nichts ändern dürfe.