Samstagsessay:Überleben mit System

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Illustration: Sead Mujic (Foto: Illustration: Sead Mujic)
  • 1989 schien es, als sei die Welt am "Ende der Geschichte" angekommen. Mit dem Mauerfall schien es, als habe sich der westliche Kapitalismus als System durchgesetzt.
  • Mit der Finanzkrise 2008 rückten dann die Schwächen des neoliberalen Kapitalismus wieder in den Fokus.
  • Heute muss sich der Kapitalismus wieder des Sozialen besinnen, wenn er den Herausforderungen des 21. Jahrunderts gewachsen sein will.

Von Dennis Snower und Markus Engels

Anlässlich von 30 Jahren Mauerfall erinnert man sich an wuchtige Bilder von 1989: Tanzende Menschen auf Mauern und die damit verbundene Vermutung, dass von nun an die Freiheit ihren weltweiten Siegeszug antreten würde. Vom "Ende der Geschichte" war die Rede, weil sich der globale Kapitalismus gegenüber einem staatssozialistischen Modell durchgesetzt hatte. Diese Euphorie ist inzwischen einer Katerstimmung gewichen - und das liegt nicht zuletzt daran, dass die bekannte Prophezeiung des amerikanischen Politikwissenschaftlers Francis Fukuyama in seinem Buch aus dem Jahr 1992 sich in dreierlei Hinsicht nicht bewahrheitet hat.

Zum einen veränderte mit dem Ende der Systemauseinandersetzung auch die soziale Marktwirtschaft nach und nach ihr Gesicht. Das System, zu dem die Menschen dazugehören wollten und weswegen sie Mauern eingerissen hatten, erlebte eine wundersame Renaissance des Neoliberalismus. Das lag auch darin begründet, dass der Prozess der deutschen Einheit von einer Siegerattitude begleitet wurde, die unterstellte, dass der Westen alles richtig und der Osten alles falsch gemacht hatte. Da der Kommunismus bei der Sicherung von materiellem Wohlstand und der Garantie von Freiheit vollkommen versagt hatte, nutzte Deutschland zügig die Gelegenheit, eine Wiedervereinigung unter marktwirtschaftlichen Bedingungen zu erzielen.

Der Fokus auf Wirtschaftspolitik vernachlässigte andere Bedürfnisse

Dabei waren die zukünftigen Schwachstellen und Risiken des deregulierten Kapitalismus schwer vorherzusagen: Die Instabilität vieler Immobilienmärkte. Die Gefahren von Schulden-Akkumulation bei niedrigen Zinssätzen. Die Risiken der neu erfundenen, komplexen Finanzinstrumente, die zu der Finanzkrise von 2008 führten. Die Polarisierung vieler Arbeitsmärkte und schließlich die steigende Kluft zwischen den Gewinnern und Verlierern der Globalisierung und des technologischen Fortschritts.

Zusätzlich war schwer vorherzusagen, dass der zu starke Fokus der Wirtschaftspolitik auf materialistische Erfolge zu einer Vernachlässigung anderer existenzieller menschlicher Bedürfnisse führen würde, insbesondere das Bedürfnis nach Einbettung in florierende Gemeinschaften und nach Befähigung, das eigene Leben selbständig zu gestalten.

Auch beim Aufstieg Chinas irrte die Prophezeiung vom "Ende der Geschichte"

Diese Versäumnisse haben das Vertrauen in die Globalisierung und Automatisierung bei vielen Menschen grundsätzlich untergraben - insbesondere bei den strukturell Benachteiligten in der Gesellschaft - und dies wurde zu lange von vielen Entscheidungsträgern in Politik und Wirtschaft übersehen. Denn durch den verkürzten Fokus auf materiellen Wohlstand kam manche Errungenschaft der sozialen Marktwirtschaft und der sozialen Gesellschaft gleich mit unter die Räder. Dies schien aber vernachlässigbar zu sein, weil ja keine Alternative zu dem siegreichen Westen mehr zur Verfügung stand.

Genau an diesem Punkt irrte die Prophezeiung vom "Ende der Geschichte" an einem zweiten Punkt: Als Folge der Globalisierung und einer in den 1970ern begonnen Öffnungspolitik begann der chinesische Aufstieg zur Weltmacht - zwar nicht als demokratische und soziale Marktwirtschaft, aber ökonomisch sehr erfolgreich. Die vermeintlichen Sieger der Geschichte mussten Stück für Stück Platz machen für neue Mächte mit globalem Ordnungsanspruch. Dabei vollzog China trotz großen ökonomischen Erfolgs keine signifikante Demokratisierung des politischen Systems.

Der soziale Teil der Marktwirtschaft rückte in den Hintergrund

Plötzlich gab es also für den Westen doch wieder eine systemische Herausforderung, ein wirtschaftlich erfolgreiches Modell unter politisch völlig anderen Vorzeichen. Das vermeintliche Gesetz, dass wirtschaftlicher Aufschwung immer auch mit der Gewinnung von politischen Rechten korreliert, hat am Beispiel China bislang keine Bestätigung erfahren.

Und ein Drittes kam im 21. Jahrhundert sichtbar hinzu: Durch Klimawandel und Umweltzerstörung, durch die wachsende Ungleichheit in und zwischen den Gesellschaften und eine drohende Dehumanisierung durch künstliche Intelligenz sind unser Planet und die Spezies Mensch gefährdet. Damit stellt sich nicht mehr zuvorderst die Frage, wer am erfolgreichsten ist, sondern ob und wie die Gattung Mensch überleben kann.

Diese Prozesse stehen im unmittelbaren Zusammenhang mit der deutschen Einheit beziehungsweise der Überwindung der einstigen Blockkonfrontation, da der Mauerfall von vielen als Symbol für den Sieg der uneingeschränkten Marktwirtschaft gesehen wurde. Der soziale Teil der sozialen Marktwirtschaft rückte in den Hintergrund.

Dabei sei aber fairerweise erwähnt, dass nach dem Fall der Mauer rasch gehandelt wurde, weil sich ein vielleicht nur kurzes Fenster der Möglichkeiten für die deutsche Einheit ergab und weil der Druck der Straße im Osten immer höher wurde - die erste freie Volkskammerwahl im März 1990 votierte für den schnellen Anschluss an die westdeutsche Bundesrepublik Deutschland.

So erlebte in der ökonomischen Debatte der Neoliberalismus eine neue Blüte. Es schien, als wenn der sogenannte freie Markt die besten Ergebnisse für die Gesellschaften erzielen könne, wenn nur der störende Einfluss von Staat und Gesellschaft überwunden wird. Dabei wurde jedoch fatalerweise übersehen, dass menschliche Bedürfnisse nicht nur durch materielle Sicherheit und Wohlstand gedeckt werden können.

Der Mensch ist eben ein soziales Wesen - und wenn seine sozialen Bedürfnisse nicht befriedigt werden, dann entstehen zunehmende soziale Spannungen, die in Populismus, Protektionismus und Xenophobie münden. Neben dem "befremdlichen Überleben des Neoliberalismus", wie der britsche Soziologe Colin Crouch ein lesenswertes Buch übertitelt hat, kam also eine weitere Fehlentwicklung dazu: Während die Stärkung des gesellschaftlichen Miteinanders angesichts des Klimawandel und der Herausforderungen durch die künstliche Intelligenz eine offensichtliche Notwendigkeit zu sein scheint, hat sich in vielen Ländern eine "Me first"-Strategie in Politik und Wirtschaft ausgebreitet. Eine Haltung, die internationale Kooperation und Multilateralismus durch eine "Deal-Mentalität" ersetzt.

Eine Neukopplung von Wirtschaft und Gesellschaft ist wichtig

Dies ist offensichtlich ein gefährlicher Weg, denn die Integration der Weltwirtschaft durch Globalisierung und technologischen Fortschritt hat auch große globale Probleme erzeugt - von Klimawandel zu Migration und Finanzkrisen -, die nur durch internationale Zusammenarbeit gelöst werden können. Deshalb gilt es, gedanklich, konzeptionell und auch emotional einen anderen Pfad einzuschlagen. Es gilt, den technischen und ökonomischen Fortschritt wieder an den sozialen Fortschritt zu koppeln und dies als Kernaufgabe des Staates, der Staatenverbünde, der Wirtschaft und der zivilgesellschaftlichen Anstrengung zu begreifen.

Die neoliberale Arbeitsteilung - Konsumenten kümmern sich um ihren eigenen Nutzen, Unternehmen kümmern sich um ihren Gewinn, und der Staat schafft Regeln, die uns zu einer optimalen Nutzung der Ressourcen führt - ist obsolet. Denn eine Neukoppelung der Wirtschaft und Gesellschaft (das sogenannte "recoupling", wie der englischsprachige Fachbegriff lautet) ist die notwendige Voraussetzung, um einen Neustart hinzulegen, die Schwächen des unregulierten Kapitalismus zu überwinden und die globalen Herausforderungen zu bewältigen.

"Me first"-Haltung in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft überwinden

Dabei geht es nicht um einen fantasielosen Umverteilungsmechanismus. Beim Recoupling geht es vielmehr darum, auf zukunftsorientierte Ausbildung und auf lebenslanges Lernen zu setzen und dabei einen Schwerpunkt auf die soziale Solidarität und die persönliche Befähigung zu legen, das eigene Leben durch eigene Kraft zu gestalten. Also die gesellschaftliche Dimension jeder Handlung miteinzubeziehen. So wie vor einigen Wochen 181 Wirtschaftsführer in den Vereinigten Staaten einen Appell veröffentlicht haben, dass das goldene Kalb des "shareholder value" weder den Unternehmen noch der Gesellschaft als Ganzes nutzt, gilt es nun, die individuelle und kollektive "Me first"-Haltung in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zu überwinden.

30 Jahre nach dem Fall der Mauer sind die Konturen eines neuen, sozial aufgeklärten und verantwortungsvollen Kapitalismus zu erkennen. Dies entspricht einer Weiterentwicklung der sozialen Marktwirtschaft, in der die sozialen und wirtschaftlichen Fähigkeiten des Menschen ausgebaut werden können und somit ein breiteres Spektrum der menschlichen Bedürfnisse befriedigen.

Wenn dies die langfristige Lehre von 1989 wird, gewinnt die deutsche Einheit als Ausgangspunkt für ein neues globales Narrativ an Bedeutung. Die Wiedervereinigung Deutschlands auf der menschlichen, gesellschaftlichen Ebene könnte Symbol für die Wiedervereinigung von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft auf globaler Ebene werden.

Professor Dennis Snower war von 2004 bis zum Frühjahr 2019 Präsident des Instituts für Weltwirtschaft (IfW) in Kiel und ist heute Präsident der Global Solutions Initiative und Professor an der Hertie School in Berlin. Dr. Markus Engels ist Generalsekretär der Global Solutions Initiative.

© SZ vom 28.09.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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