Italien:Marios junge Freunde

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Sie sind die Zukunft des Landes, aber genau um diese Zukunft fühlen sich viele junge Italienerinnen und Italiener betrogen. Im Bild: Studenten diskutieren in der Altstadt von Neapel. (Foto: Johannes Simon)

Keine Jobs, Schulen dicht, uferlose Schulden: In Italien verzweifelt die Jugend in der Corona-Krise an ihrem Schicksal als betrogene Generation. Doch jetzt schöpfen die Entmutigten auf einmal Hoffnung.

Von Ulrike Sauer, Rom

Sie haben lange gewartet. Seit vergangenem Juli, als Europa das bahnbrechende Rettungsprogramm "Next Generation EU" auf den Weg brachte. Sie haben Forderungen gestellt. Sie haben ihrer Regierung konkrete Vorschläge gemacht. Sie haben 100 000 Unterschriften gesammelt für die Petition "Ein Prozent reicht nicht". Sie haben weiter gewartet. Keine Antwort. Nichts. Sie sind junge Italiener und sie wollen sich bei der Verteilung der 209 Milliarden Euro aus dem europäischen Aufbaufonds nicht mit Krümeln abspeisen lassen. Denn sie sagen: "Wir sind die Generation, die für die Kosten dieser Krise aufkommen und die Schulden zurückzahlen muss." Ihre Geduld ist am Ende.

Vor drei Wochen stieg Carmelo Traina, 26, in Mailand in den Zug nach Rom. Der Start-up-Unternehmer ist auch Chef der Jugend-Lobby Visionary, die in Italien gegen die geschlossene Gesellschaft der erwachsenen Besitzstandwahrer und Arrivierten anrennt. Es war schon dunkel, als er in der Hauptstadt mit ein paar Mitstreitern vor das Regierungsamt zog. Drinnen im Palazzo Chigi war man bemüht, Überläufer aus der Opposition zur Verstärkung der bröckelnden Koalition zusammenzutrommeln. Draußen projizierten die jungen Leute eine Mahnung an die Fassade. "Wer nicht in seine Jugend investiert, hat keine Zukunft", stand in großen Leuchtbuchstaben an dem Palazzo, in dem Premier Giuseppe Conte noch um den Machterhalt rang.

Die Leute von Visionary protestierten mit ihrer Aktion gegen einen neuen Regierungsplan zur Verwendung des Geldes aus dem EU-Aufbaufonds. Im größten italienischen Investitionsprogramm aller Zeiten wird die Jugend wieder mal übergangen. Nur 2,8 Milliarden Euro sollen direkt für die Verbesserung der Chancen einer vergessenen Generation verwendet werden, rechnen die Betroffenen vor. Etwas mehr als ein Prozent der 209 Milliarden Euro, mit denen die europäischen Partner Italien in einem beispiellosen Einsatz unter die Arme greifen. "Wir fordern 20 Milliarden Euro für Ausbildung, Berufsorientierung und Arbeit", sagt Traina. Außerdem verlangen sie: konkrete Projekte, klare Zielvorgaben und kontrollierbare Prozeduren. All das fehlt dem Plan bisher. Ein Manko, das auch Brüssel alarmiert. EU-Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni rüffelte öffentlich die Vagheit der römischen Pläne.

Sind die großzügigen Corona-Hilfen Europas am Ende nur eine weitere Bürde, die Italien einer betrogenen Jugend auflädt? Die Regierung hat seit Beginn der Pandemie 165 Milliarden Euro zusätzliche Schulden aufgekommen, um die Krise zu lindern. Nun soll das Land aus dem Aufbauprogramm der EU 127 Milliarden Euro Darlehen erhalten, die zurückgezahlt werden müssen. Die restlichen 39 Prozent sind Zuschüsse. In Brüssel ist "Next Generation EU" als Zukunftsinvestition gedacht, von der die neuen Generationen profitieren sollen. In Rom sieht man die Jungen bisher in der Rolle der Zahlmeister.

Carmelo Traina, schwarzer Wuschelkopf, runde Nickelbrille und ein markanter sizilianischer Akzent, sitzt längst wieder an seinem Mailänder Schreibtisch im Talent Garden, einem Großanbieter von Co-Working-Space. Der Ingenieur blickt seit ein paar Tagen aber mit einer ganz neuen Erwartung nach Rom. Nach dem Scheitern Contes erhielt Mario Draghi am vergangenen Dienstag den Auftrag zur Regierungsbildung. Traina war begeistert. "Draghi weckt große Hoffnungen bei uns", sagt der Visionary-Chef. Er setze sich mit "außerordentlichem Nachdruck" für die Jugend ein. Traina erinnert an eine große Rede, die der frühere Chef der Europäischen Zentralbank im vergangenen August gehalten hat. Da sagte der 73-Jährige in Rimini: "Einen jungen Menschen seiner Zukunft zu berauben, ist eine der schlimmsten Formen der Ungleichheit."

Draghis Worte erregten in Italien Aufsehen. Er brach neun Monate nach dem Ende der Amtszeit als EZB-Chef sein Schweigen. "Über Jahre hat eine Form von kollektivem Egoismus die Regierungen dazu verleitet, ihre Anstrengungen auf Ziele zu richten, die einen sicheren und unmittelbaren politischen Vorteil bringen", sagte er. Das sei nicht mehr akzeptabel. Der Euro-Retter rief die Regierung dazu auf, die Jugend in den Mittelpunkt ihrer Strategie zu stellen. Die Corona-Soforthilfen seien wichtig gewesen, aber junge Menschen benötigten mehr. "Wir müssen ihnen mit Investitionen in ihre Bildung beistehen", sagte er.

Mario Draghi soll es richten: Der frühere EZB-Chef führt gerade Gespräche zur Bildung einer neuen Regierung in Rom. (Foto: Federica Agamennoni /imago images)

Das Thema Jugend zieht sich wie ein roter Faden seit seiner ersten Ansprache als römischer Notenbankchef 2006 durch Draghis Reden. Ihn leitet nicht nur ökonomische Vernunft, sondern auch persönliches Erleben. Mit 15 verlor er seine Eltern. Der Besuch der römischen Jesuitenschule Collegio Massimo, der Universität La Sapienza und des MIT in Boston waren für ihn das Sprungbrett einer steilen Karriere. Nun inspiriert das Manifest von Rimini allem Anschein nach sein Regierungsprogramm.

Die Pandemie ist ein Stresstest, der überall die Schwächen der Gesellschaften unerbittlich offenlegt. In Italien trifft sie die jungen Menschen am härtesten. Die Corona-Krise verschärfte das Elend einer Generation, die dem Land nichts wert ist. "Seit einem Jahr wache ich morgens demoralisiert auf und frage mich, ob es in dieser Gesellschaft irgendwann einen Platz für mich geben wird", postete Gianluca Testarella, 25, in einem Blog. Die Jungen waren die Ersten, die ihre prekären Jobs verloren. Sie mussten ihre Praktika abbrechen. Die Schulen und Universitäten wurden am 5. März 2020 landesweit geschlossen. Mitte September ging für die Jüngeren der Präsenzunterricht wieder los. Die Oberschüler kehrten im Februar, nach elf Monaten, aus dem Homeschooling in die Klassenzimmer zurück - im Wechselbetrieb. Das Problem, sagte die Regierung, sei nicht die Schule, sondern die Infektionsgefahr in den Verkehrsmitteln. Ihre Lösung: Lernt zu Hause am Bildschirm.

Dass das bei der etwa einen Million Kinder, die in Italien in Armut leben, gelingen könnte, war eine Illusion. Für viele fand der Unterricht bestenfalls auf dem 5-Zoll-Display ihres Handys statt. "Ich weiß nicht, was aus unserer Schule nach der Pandemie wird. Ich glaube, wir werden die Hälfte unserer Schüler nicht wiedersehen", sagt Eugenia Carfora, Schulleiterin in einem Problemviertel in Caivano bei Neapel. Der Anteil der 15- bis 24-Jährigen, die weder arbeiten noch in der Ausbildung sind, stieg auf 27,8 Prozent - ein europäischer Rekord. Fünf Millionen Jugendliche sind arbeitslos.

Visionary legte dem Finanzausschuss des römischen Parlaments vor einer Woche Vorschläge für gezielte Investitionen zur Verbesserung der Berufschancen vor. Die Organisation beschäftigt sich seit vier Jahren mit der Frage, wie junge Italiener ihrem Schicksal als verlorene Generation entkommen können. Der Name Visionary ist Programm: "Man denkt hier nur an heute oder höchstens noch an morgen früh", sagt Traina. Was Italien fehlt, sei eine Vision.

"Welches Land hinterlassen wir unseren Kindern?", fragte Mario Draghi 2011 in seiner Abschiedsrede in Rom, bevor er in Frankfurt die Verantwortung für den Euro übernahm. Jetzt, zehn Jahre später, hat er die Antwort in der Hand.

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