Interview mit J. M. Barroso:"Dieser Gipfel darf nicht scheitern"

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EU-Kommissionschef Barroso über seine Erwartungen an den Weltfinanzgipfel, die Reform des Finanzsystems - und was Europa falsch macht.

Cerstin Gammelin und Alexander Hagelüken

José Manuel Barroso wehrt sich gegen den Vorwurf, er habe als EU-Kommissionschef zu wenig gegen das Aufziehen der Finanzkrise getan. Viele Mitgliedsstaaten hätten eine stärkere Kontrolle der Geldbranche blockiert. Barroso fordert Europas Regierungen auf, sich mit höheren Staatsausgaben gegen die Rezession zu stemmen.

José Manuel Barroso sorgt sich um das mangelnde Vertrauen am Markt. (Foto: Foto: Reuters)

SZ: Herr Präsident, haben Sie in den vergangenen Wochen befürchtet, das globale Finanzsystem könnte kollabieren?

José Manuel Barroso: Das war für mich ein unwahrscheinliches Szenario. Aber nur aus dem einzigen Grund, weil Amerika und Europa so schnell reagiert haben. Ohne unser Rettungspaket wäre ein globaler Zusammenbruch möglich gewesen. Es gab in einigen europäischen Staaten sehr schwierige Situationen. Hätte es auch bei uns eine Pleite wie die der US-Bank Lehman Brothers gegeben, wäre das zerstörerisch gewesen, für den Finanzsektor und darüber hinaus. Wir haben die Krise allerdings nicht hinter uns.

SZ: Welche Risiken bestehen weiter?

Barroso: Ich sorge mich nach wie vor um das mangelnde Vertrauen am Markt. Trotz aller Rettungspakete vergeben die Banken ihre Kredite viel zu restriktiv, etwa gegenüber dem Mittelstand. Sie müssen endlich die Unterstützung, die sie bekommen haben, an die reale Wirtschaft weitergeben!

SZ: Die zwanzig mächtigsten Volkswirtschaften wollen in Washington einen Plan für ein besseres Finanzsystem beschließen. Wie sollte der aussehen?

Barroso: Wir dürfen von diesem Treffen, das Europas Idee war, nicht gleich ein Wunder erwarten, sondern ihn als Start eines Prozesses sehen, der in hundert Tagen ein fertiges Programm schafft. Dieser Gipfel darf nicht scheitern! Es ist ein historisches Treffen, weil die Industriestaaten das erste Mal das Finanzsystem reformieren wollen, seit 1944 in Bretton Woods die heutige Finanz-Architektur mit Internationalem Währungsfonds IWF ausgehandelt wurde. Noch vor ein paar Monaten wäre schon ein solches Treffen unmöglich gewesen, weil Staaten wie die USA strikt dagegen waren.

SZ: Aber die Zeit drängt. Reicht es aus, nur einen Prozess zu starten?

Barroso: Ich erwarte natürlich, dass auch Konkretes beschlossen wird. Zum Beispiel müssen wir dem Internationalen Währungsfonds mehr Kompetenzen einräumen. Und vor allem unser großes Ziel beschließen, dass jede relevante Finanzinstitution effektiv kontrolliert werden muss - rund um den Erdball, national und international. Auch das hätten viele Teilnehmer vor ein paar Monaten auf keinen Fall mitgemacht. Die Krise zwingt sie zum Umdenken.

SZ: Wie werden sehen. Würden Sie eher Wunder erwarten, wenn der designierte US-Präsident Barack Obama am Tisch säße? Hätte er kommen sollen?

Barroso: Das müssen die Amerikaner entscheiden. Ich erwarte generell keine Wunder, sondern Fortschritte. Obama betonte im Wahlkampf, dass er einen multilateralen Ansatz verfolgt und Europa stark einbeziehen will. Darauf setze ich.

Lesen Sie weiter, welchen Anteil die Kommission daran hat, dass es zu dieser schweren Finanzkrise kam.

SZ: Und wie stark ist Europa? Setzt es seine Ideen beim Internationalen Währungsfonds mutig genug durch?

Barroso: Leider bringen wir noch nicht unser ganzes Gewicht ein. Wir haben mehr Stimmrechte als die USA, aber weniger Einfluss als die Amerikaner. Wir müssen das ändern.

SZ: Zur Krise kam es auch, weil Billionen Dollar in Steuerparadiese fließen, von denen aus auch noch Tausende Hedgefonds agieren - ohne staatliche Aufsicht. Deutschland drängt darauf, diese Schlupflöcher weltweit sofort zu schließen. Unterstützen Sie die Deutschen?

Barroso: Ja. Schließlich haben alle EU-Staats- und Regierungschefs vergangene Woche beschlossen, dass alle Länder der Welt angemessene Regulierung und Aufsicht vorsehen müssen - auf der Grundlage gemeinsamer Prinzipien.

SZ: Das klingt gut. Aber schon im Kleinen kommen die Verhandlungen der Kommission mit Liechtenstein über ein entsprechendes Abkommen nicht voran.

Barroso: Wir arbeiten daran. Das ist nicht allein Aufgabe der Kommission. Alle Mitgliedsstaaten müssen uns dabei unterstützen.

SZ: EU-Parlamentarier forderten schon seit Jahren, Banken und Ratingagenturen sowie Hedgefonds stärker zu beaufsichtigen. Dennoch blieben Sie lange untätig. Welchen Anteil hat die Kommission daran, dass es zu dieser schweren Finanzkrise kam?

Barroso: Tatsächlich haben eine Reihe von Parlamentariern sehr ambitionierte Forderungen gestellt, ich gratuliere ihnen dazu. Für Initiativen der Kommission gab es aber lange keine Aussicht auf Erfolg, weil es in Europas dafür keine Mehrheit gab. Wir wollten schon Ende 2007 Ratingagenturen stärker überwachen lassen. Aus den Mitgliedstaaten kam aber viel Widerstand. Selbst jetzt stößt unser wirklich notwendiger Vorschlag, Versicherungen künftig grenzüberschreitend zu beaufsichtigen, immer noch auf Widerstand. Aber der Konsens, dass jetzt gehandelt werden muss, wächst. Die Vorschläge, die wir diesen Herbst gemacht haben - von der Bankenaufsicht über die Einlagensicherung bis zur Überwachung der Ratingagenturen - zeigen unsere Arbeit. So etwas zieht man nicht über Nacht aus der Schublade.

SZ: Anders als in Bretton Woods nehmen am Washingtoner Gipfel Schwellenländer wie Brasilien, China und Indien teil. Wie wirkt sich das aus?

Barroso: Diese Länder haben von der Globalisierung stark profitiert. Jetzt müssen sie mehr Verantwortung übernehmen.

Lesen Sie weiter, warum die aktuelle Krise eine neue Herausforderung darstellt.

SZ: Lässt sich diese Finanzkrise mit früheren Krisen vergleichen?

Barroso: Dies ist die erste Finanzkrise im Zeitalter der Globalisierung und daher eine ganz neue Herausforderung. Die Krise entstand im Herz der Industriestaaten, erst in den USA, dann in Europa. Jetzt trifft sie viele Länder, die die Krise nicht verursacht haben. Nehmen Sie Brasilien: Die Banken sind nicht von diesen toxischen Wertpapieren infiziert wie in den USA. Aber das mangelnde Vertrauen und weniger Nachfrage anderer Staaten nach brasilianischen Waren treffen das Land stark.

SZ: Wie schwer wird die Rezession Europa erwischen?

Barroso: Wir stehen am Rande eines tiefen wirtschaftlichen Abschwungs. Wir müssen unbedingt dafür sorgen, dass nach dem Abwenden der schlimmsten Auswirkungen der Finanzkrise nun die Wirtschaft angeschoben wird. Die Bürger werden es nicht verstehen, wenn wir jetzt die Hände in den Schoß legen. Wir müssen umgehend einen ähnlichen Werkzeugkasten für unsere Wirtschaft entwickeln wie für das Finanzsystem.

SZ: Offensichtlich traut sich nicht jeder. Deutschland dürfte nach dem EU-Stabilitätspakt mehr staatliche Ausgaben wagen, um gegen die Rezession zu steuern. Nutzt Berlin diese Spielräume?

Barroso: Eines ist klar: Wer finanzielle Spielräume hat, sollte sie ausnutzen. Ein konjunktureller Einbruch würde Deutschland stark schaden. Ich sehe, dass in Deutschland sehr gründlich über richtige Maßnahmen nachgedacht wird.

SZ: Brauchen wir eine europäische Wirtschaftsregierung, wie sie Frankreichs Präsident Sarkozy fordert?

Barroso: Nach dem Treffen der Staats- und Regierungschefs am 7. November sind wir uns in Europa einig, dass wir nationale Aktivitäten besser koordinieren, aber nicht alles vereinheitlichen müssen. Wenn etwa Polen ein Wirtschaftsprogramm beschließt, wirkt sich das auf Deutschland aus und sicher auch umgekehrt. Es macht also Sinn, diese Dinge zu besprechen; der Stabilitätspakt und die Lissabon-Strategie für Wachstum und Beschäftigung bieten dafür eine gute Grundlage.

© SZ vom 14.11.2008/mel - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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