Nicholas Merrill ist erstaunlich gelassen dafür, dass er nach elf Jahren Schweigepflicht vielleicht endlich reden darf. "Ich hätte nie gedacht, dass dieser Fall mich ein Viertel meines Lebens beschäftigten würde", sagt er und zuckt mit den Schultern. Merrill ist 42 Jahre alt und hat sich daran gewöhnt, seine Geschichte bei Kaffee und Kippe zu erzählen. Er arbeitet zurzeit in Manhattan und macht eine kurze Pause von der Arbeit bei einem Kunden, über den er keine Infos preisgeben will. Sachen für sich zu behalten, das ist seine Stärke. Niemand dürfte das besser wissen als der Gegner von Merrill: die zum US-Inlandsgeheimdienst mutierte Bundespolizei FBI.
2004 riefen Agenten an. Merrill betrieb zu der Zeit eine Webhosting-Firma namens Calyx Internet Access. Kunden zahlen Geld und kriegen im Gegenzug Speicherplatz, um ihre Webseite ins Netz zu stellen. Die Agenten teilten Merrill mit, dass sie einen Brief für ihn hätten. Keine zwei Stunden später klopfte das FBI an seine Tür. Es wollte Informationen über einen von Merrills Kunden. Üblicherweise kommen solche Briefe mit der Unterschrift eines Richters. Die Judikative prüft, ob die Wünsche der Exekutive dem Gesetz nach zulässig sind. Doch der Brief, den Merrill nun in Händen hielt, wurde keinem Richter vorgelegt.
"Es war eine furchtbare Zeit"
Es war ein sogenannter National Security Letter (NSL). Nach den Anschlägen im September 2001 bekamen US-Behörden mit dem Patriot Act weitreichende Befugnisse, um Terroristen aufzuspüren, bevor diese ein Attentat durchführen können. Diese Befugnisse umfassten auch die Art und Weise, wie NSL eingesetzt werden dürfen. Eine der Änderungen: Ein konkreter Tatverdacht ist nicht länger von Nöten. Die "Relevanz" für eine Ermittlung, um Terroranschläge zu verhindern, reicht aus. Einer von Präsident Obama eingesetzten Expertenkommission zufolge verschickt das FBI 60 NSL pro Tag. Zusammen mit dem Brief erhielt Merrill eine gag order, die Schweigepflicht. Das FBI verbat ihm, über den Erhalt des Briefes zu sprechen. "Es war eine furchtbare Zeit", sagt er heute.
Ein US-Richter hat vergangene Woche entschieden, dass die Regierung nicht das Recht hat, Menschen auf unbestimmte Zeit zum Schweigen zu verdonnern. Noch bleibt Merrill leise, da gegen das Gerichtsurteil Berufung eingelegt werden kann. Nur so viel soll er einer Journalistin des Wall Street Journal einmal gesagt haben: Wenn die Menschen wüssten, welche Informationen das FBI wollte, wären sie schockiert. Die Aussage stammt aus einer Zeit, zu der die Enthüllungen von Snowden schon bekannt waren.
Damals, als das FBI auf Merrill zukam, hat das Land noch im Angstklima des 11. September gelebt, der Irakkrieg hatte gerade erst begonnen. "Präsident Bush sagte öffentlich, dass er nicht die Erlaubnis eines Richters braucht, um Menschen zu verhaften. Und kurz darauf setzte er das dann auch in die Tat um." Die Menschen seien in Freund und Feind eingeteilt worden. Furchteinflößend sei es gewesen, während so einer Zeit zu überlegen, gegen die Regierung vorzugehen. Die Firma Google tat es damals zum Beispiel nicht ( heute hingegen schon).
Doch Merrill sprach mit Anwälten der Bürgerrechtsgruppe American Civil Liberties Union (ACLU). Gemeinsam entschieden sie, den Brief anzufechten. "Selbst die Juristen der ACLU hatten nie zuvor so einen Brief gesehen", sagt Merrill. Er habe von der ACLU eine Garantie haben wollen dafür, dass die Regierung ihn nicht entführen und wegsperren darf. Eine Anspielung auf das Gefangenenlager Guantánamo. "ACLU konnte mir diese Sicherheit nicht geben", sagt Merill.
Klage als Anonymus
Da er seinen Namen geheim halten musste, lief die Klage unter dem Namen "John Doe". Aus Nicholas Merrill wurde für einige Jahre Max Mustermann. Er saß im Gerichtssaal, aber nur im Publikum. In einem Artikel, den er als anonymer Autor in der Washington Post veröffentlichen durfte, schrieb er, dass es "stressig und surreal" ist, schweigen zu müssen. "Wenn ich mich mit meinen Anwälten treffe, darf ich meiner Freundin nicht sagen, wohin ich gehe." Mittlerweile ist Merril verheiratet und hat ein Kind. Ob er heute noch den Mut hätte, aufzubegehren, weiß er nicht.
Merrill hat mit seinen Klagen mehrfach gewonnen, entsprechende Stellen im Patriot Act wurden in der Folge als verfassungswidrig eingestuft und vom Kongress überarbeitet. Seit 2010 darf Merrill öffentlich sagen, dass er diese Klage eingereicht hat. Das FBI zog die ursprüngliche Anfrage in der Zwischenzeit zurück, versucht aber auch weiterhin, Merrill den Mund zu verbieten. Die Regierung argumentiert, dass Verbrecher und Terroristen ihr Verhalten ändern würden, sobald bekannt ist, wonach das FBI suche. Daher sollen die Informationen auch weiterhin geheim bleiben.
In dem Urteil, das Ende August ergangen ist, aber erst vergangene Woche öffentlich bekannt wurde ( hier die PDF-Datei), kommt der Richter zu dem Schluss, dass es keine guten Gründe gebe, Merrill davon abzuhalten, auch über Einzelheiten zu reden. Noch ist der skeptisch, ob er dieses Mal wirklich reden darf. "Bis heute hat die Regierung jedes Mal Berufung eingelegt. Warum sollten sie es jetzt nicht tun?" fragt Merrill. FBI und Justizministerium reagierten nicht auf eine Anfrage der SZ. Für eine Berufung hat die Regierung 90 Tage Zeit.