Jedes Jahr im Dezember ernennt das Time Magazine einen Mann oder eine Frau zur "Person des Jahres". 2006 war diese Person "You", Du, Jedermann. Es war der Höhepunkt der Euphorie, mit der damals das "Web 2.0" begrüßt wurde. Dem Begriff zum Trotz hatte sich am Internet selbst nichts verändert. Neu waren nur die Benutzungsmodi: Mit Wikipedia, Googles Algorithmen und den sozialen Netzwerken wurde der frühere Konsument von Websites immer mehr zum freiwilligen oder unfreiwilligen Kollaborateur.
Internet-Theoretiker wie James Surowiecki feierten die Entwicklung als historische Errungenschaft: Die "Weisheit der Vielen", so der Titel seines Buchs sei der Einzelner überlegen und werde helfen, die Probleme der Menschheit zu lösen. Andere, darunter Ray Kurzweil in seinem Buch "Spiritual Machines", träumen sogar schon von dem Tag, da das Internet als eine einer Art Meta-Gehirn der Menschheit das Kommando übernimmt.
Mit seinem Essay "Digital Maoism" hat der Künstler, Musiker und Technologie-Forscher Jaron Lanier dieser Euphorie einen entschiedenen Dämpfer verpasst. Die "Weisheit der Vielen", wie sie sich etwa in den Artikeln von Wikipedia oder den Suchergebnissen von Google ausdrücke, sei eine gefährliche Illusion. In seinem eben erschienenen Buch "You Are Not a Gadget" warnt er vor dem Kult des Kollektivs und appelliert für eine neue Wertschätzung von Individualität im Internet, bevor die gegenwärtigen Strukturen sich verfestigen.
Im Interview mit der SZ erklärt er, weshalb er nicht mehr an das Gute des Netzkollektivs glauben kann
SZ: Sie beschreiben in Ihrem Buch zwei parallel stattfindende Prozesse: Die radikale Reduzierung unserer Persönlichkeiten im Netz, die allmählich auf unsere realen Ichs zurückschlägt. Und die Entwicklung einer Art Online-Diktatur der Masse.
Jaron Lanier: Beide Entwicklungen gehen Hand in Hand. Denken Sie an Wikipedia: Das Ideal dort sind Artikel, die frei sind von jeder ideologischen Tendenz. Das ist natürlich unmöglich. Was am Ende stehenbleibt, ist die Mob-Ideologie, die sie in sehr vielen Beiträgen finden. Weil so viele Leute zu Wikipedia verlinken, tauchen die Beiträge bei Google an den ersten Stellen auf. Alle, die sich nun mit einem Thema beschäftigen, sind versucht, die Wikipedia-Linie zu übernehmen. Der Durchschnitt setzt sich immer mehr durch, Qualität geht verloren.
Das andere ist die Tendenz vieler Menschen zu boshaftem Verhalten im Internet. Das Internet bringt das Schlechteste im Menschen hervor. Auch mir ist das schon passiert. Offenbar ähneln Menschen Hunden: Im Rudel neigen sie zu einer sehr gefährlichen Bösartigkeit. Der Druck zur Anpassung an den Durchschnitt und dieses Rudelverhalten gehen auf dasselbe Problem zurück: Es gibt zu viele Internet-Angebote, die am Kollektiv, nicht am Individuum interessiert sind.
SZ: Hat sich das Kollektiv in der Geschichte der Zivilisation nicht immer wieder große Verdienste erworben?
Lanier: Natürlich ist das Kollektiv wichtig, bei Wahlen etwa oder bei der Bestimmung von Preisen auf den Märkten. Aber wenn Kreativität oder neue Ideen gefragt sind, versagt es.
SZ: Warum finden wir es nicht nur akzeptabel, sondern oft auch attraktiv, unsere Netz-Repräsentation bei Facebook oder anderswo in so enge Schablonen pressen zu lassen? Ist es Bequemlichkeit oder die heimliche Sehnsucht, unsere komplizierten Identitäten hinter uns zu lassen?
Lanier: Es ist vor allem Gruppenzwang. Sobald sich das Kollektiv geformt hat, ist jeder, der sich ihm nicht anschließt, in Gefahr, von ihm erstickt zu werden. Stellen Sie sich vor, Sie sind ein Teenager in Afghanistan und halten nichts von islamistischem Märtyrertum. Es ist nicht einfach, das Ihren Freunden zu offenbaren. Viele, vor allem junge Menschen, haben außerdem das Gefühl, ihnen fehle es an sozialem Status, Geld oder Erfolg. Sie akzeptieren den Durchschnitt als Ideal, weil sie das Gefühl haben, sie stünden unterhalb des Durchschnitts.
SZ: Ziehen sich die Menschen nicht schon seit Jahrhunderten ähnlich an, hören dieselbe Musik, folgen ähnlichen Ideologien?
Lanier: Natürlich war es schon immer attraktiv, Teil der Masse zu sein, im Fußballstadion zum Beispiel. Doch im Internet wird die Welt viel einfacher dargestellt als sie tatsächlich ist, und die Prozesse laufen schneller ab. Wie rasant ist Google zu dieser globalen Macht aufgestiegen! Wie schnell haben Millionen angefangen zu twittern! Deshalb habe ich ernsthaft Sorge, dass es eines Tages zu einem gefährlichen Mob-artigen Ausbruch im Internet kommen wird. Ich glaube, der islamistische Terrorismus ist zumindest in Teilen ein solches Phänomen. Das Internet macht die Menschen nicht schlechter, aber es erlaubt eine Dynamik, die vorher undenkbar war.
SZ: Wie wurde das Internet zu dieser Massenmaschine?
Lanier: Am Anfang stand die Utopie, dass Menschen und Maschinen dasselbe sind. Diese Vorstellung geht unter anderem zurück auf den schwulen Computervordenker Alan Turing, der Selbstmord beging, nachdem die britische Regierung ihn zwang, weibliche Hormone zu nehmen. Turings Geschichte übt eine große Faszination auf bestimmte Leute aus, Leute, die sich mit Maschinen und Computern wohler fühlen als unter Menschen. Für diese Leute versprach die Vorstellung, Menschen und Computer seien dasselbe, einen Ausweg aus all dem Schmerz und der Unsicherheit ihrer Sexualität. Vielleicht ließe sich sogar die Sterblichkeit überwinden.
Ein anderer Prophet der Technik-Community ist Ray Kurzweil, der sagt, dass Computer eigenes Bewusstsein erlangen und über die Welt herrschen werden. Der Moment, da die Computer die Macht übernehmen, heißt "Singularity". Der Glaube, dass dieser Moment kommen wird, hat alle Züge einer Religion. Sehr viele in der Technik-Community, vor allem Software-Ingenieure, glauben fest daran und schreiben ihre Programme entsprechend.
SZ: Nach außen werden die Partizipationsmöglichkeiten im Internet gerne als Fortentwicklung der Demokratie verkauft: Jeder ist gleich, jeder wird gehört.
Lanier: Das ist natürlich eines der großen Themen der Politikwissenschaften: Maximale Partizipation führt nicht automatisch zu einer funktionierenden Demokratie, sondern zu etwas, das eher einer Diktatur gleicht. Ein System mit Regeln und Strukturen funktioniert besser, auch wenn die Macht nicht gleichmäßig verteilt ist.
SZ: Wer profitiert von dem Internet, wie wir es heute kennen? Wer sind die "Herren der Wolke"?
Lanier: Es gibt zwei: Der eine ist Google. Google will, dass alle unbezahlt arbeiten, damit es selbst seine Anzeigen verkaufen kann. Die anderen sind Hedge Funds und andere Finanzunternehmen. Beide sind sich sehr ähnlich. Sie abstrahieren die Welt und ziehen Geld aus ihr, ohne selbst etwas beizutragen. Die jüngste Rezession wurde im Wesentlichen durch falsche Anwendung von crowd computing ausgelöst.
SZ: Handelt es sich beim "Digitalen Maoismus" nicht einfach um eine Weiterentwicklung des Kapitalismus?
Lanier: Die extremen Formen von Kapitalismus, die man online findet, ähneln den Strukturen des Maoismus. Google ist das Äquivalent zur Kommunistischen Partei. Im Gegensatz zu Marx und den meisten Marxisten verachtete Mao die Intellektuellen und glorifizierte die Bauern. Abraham Maslows "Bedürfnispyramide" ist hier ganz hilfreich: Bevor wir uns höheren Bedürfnissen widmen, müssen die Menschen erst einmal ihren Hunger stillen. Unter Mao wurden alle, die die Pyramide ein Stück hochgeklettert waren, wieder hinabgestoßen und auf die Felder geschickt. Die heutige Online-Kultur tut im Prinzip genau dasselbe. Musiker sollen ihre Musik verschenken, sie können ja mit Konzerten und T-Shirts Geld verdienen. Journalisten sollen umsonst schreiben, dann werden sie vielleicht in eine Talkshow eingeladen oder können ihre Bücher verkaufen. Statt der avanciertesten geistigen Arbeit wird eine primitivere, physischere Leistung belohnt. Das kehrt die kulturelle Entwicklung der Menschheit um.
SZ: Von dem Konflikt mit China einmal abgesehen, hat man den Eindruck, dass die Macht von Google immer klarer erkannt wird.
Lanier: Das Interessante ist, dass die chinesische Regierung und Google ganz ähnliche Ziele haben: Beide wollen Kontrolle über die Kommunikation, beide haben keine Lösungen für die Zukunft. Google muss sich reformieren. Es ist wie ein Organismus ist, der sich von seinem eigenen Körper ernährt. Es geht eine Weile lang gut, aber dann ist das Verhungern unausweichlich. Statt nur Anzeigen zu verkaufen, muss es anfangen, Geld zu verlangen für die Inhalte, die es anbietet, und dieses Geld an die Autoren auszuzahlen. Sonst ist die Zivilisation, die es im Internet verfügbar machen will, irgendwann tot.