Indien:Ein Kraftakt mit drei Buchstaben

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Gemüsegroßmarkt in Delhi: Wer hier verkaufen will, muss diverse Steuern zahlen und hat viel Papierkram zu erledigen. Das soll künftig einfacher werden. (Foto: Prakash Singh/AFP)

Die Regierung in Delhi plant die Einführung der Mehrwertsteuer - viele sehen darin eine der wichtigsten Reformen seit der Unabhängigkeit des Landes. Doch es gibt auch kritische Stimmen.

Von Arne Perras, Singapur

Wer braucht in Indien die stärksten Nerven? Gut möglich, dass es die Trucker sind. Nicht nur wegen des mörderischen Verkehrs, sondern auch wegen der Checkpoints, die ein indischer Lastwagen passieren muss, wenn er quer durch Indien von einem Bundesstaat zum nächsten fährt. Der Papierkrieg an innerindischen Grenzen ist schon legendär. Vor den Kontrollpunkten bilden sich oft kilometerlange Warteschlangen. Doch Indiens Spediteure hoffen, dass die Qualen der Kleinstaaterei nun bald überwunden sind. Ihre Hoffnungen konzentrieren sich auf das Kürzel mit den drei Buchstaben: GST.

Indien führt demnächst eine neue Steuer ein: die "Goods and Services Tax", kurz GST. Zahlreiche Experten betrachten diese Reform als eine der wichtigsten seit der indischen Unabhängigkeit 1947. Die Zeitung Financial Express lobt die beschlossene Mehrwertsteuer bereits als "eine der herausragenden Entwicklungen der Gegenwart in einem so großen und vielschichtigen Land wie dem unseren". Der Ökonom Damodaran Rajasenan von der Cochin University im südindischen Kerala nennt den Umbau sogar "revolutionär". So viel Lob für die indische Wirtschaftspolitik gibt es selten. Dennoch sind manche Unternehmer jetzt auch nervös. Denn die Reform, welche die Wirtschaft viele Jahre lang herbei gesehnt hat, soll nun in rasendem Tempo umgesetzt werden.

Nur noch wenige Wochen bleiben, wobei die Tariflisten für einzelne Waren und Produkte noch gar nicht fertig sind. "Indien zieht jetzt in drei Monaten durch, wofür die Europäer vielleicht drei Jahre ansetzen würden", sagt der Rechtsanwalt Tillmann Ruppert von der Beratungsgesellschaft Rödl & Partner. Die letzten Hürden im Oberhaus und Unterhaus sind genommen, der Präsident hat die Gesetze vergangene Woche unterzeichnet. Geplanter Startschuss für GST: 1. Juli 2017.

Ist dies der Beginn eines einheitlichen indischen Binnenmarktes? Wenn das Vorhaben hält, was die Regierung von Premier Narendra Modi verspricht, werden nicht nur für Trucker neue Zeiten anbrechen. Ökonom Rajasenan rechnet mit einem starken Schub für das Wachstum. "Zwei Prozent sind nicht übertrieben", sagt er. Im Übrigen sei die neue Steuer auch für ausländische Firmen ein Segen. Indien-Experte Ruppert sieht das ähnlich: "Für viele deutsche Unternehmer bedeutet die Reform, dass sie ihre Produkte künftig besser auf dem Subkontinent absetzen können."

Doch zunächst noch einmal zu den indischen Fernfahrern, deren Leben bisher eine einzige Geduldsprobe zu sein scheint. Der Trucker Zakir, den die Zeitung Hindustan Times an einem Checkpoint befragte, kennt das Elend seit vielen Jahren. Er wäre begeistert, wenn der Wahnsinn mit den Formalitäten bald ein Ende nähme. Er kann es aber noch nicht glauben. Für ihn ist es schon ein guter Tag, wenn er nach vier Stunden Wartezeit nur noch eine Lkw-Schlange von drei Kilometern vor sich sieht, um eine Ladung Weizen aus Bhopal bis in den Hauptstadtbezirk Delhi zu schaffen. Wer Güter in eine indische Metropole bringt, muss dafür Steuern zahlen. Sie werden verschwinden, wenn das GST-System eingeführt wird.

Gut ein Sechstel seiner Arbeitszeit verbringt ein indischer Trucker an den Check-points, um Steuer- und Zollformalitäten abzuwickeln, wie die Transportbehörde errechnet hat. Ein indischer Lastwagen legt jährlich eine Strecke von etwa 85 000 Kilometern zurück. In besser organisierten Staaten kann ein Truck mehr als doppelt so viele Kilometer machen. Schon daran ist zu erkennen, wie sehr das Steuergestrüpp die Wirtschaft ausbremst. Die neue Steuer soll Dutzende verschiedene Abgaben und Steuern ersetzen. Jeder Bundesstaat der indischen Union hat eigene Regeln, Sätze und Verfahren. Sich in diesem Wirrwarr zu orientieren, ist mühsam.

Es ist eines der Kernprojekte der Regierung, um das Land zu modernisieren

Deshalb wächst beim indischen Unternehmer Arvind Datta mit jedem Tag die Freude, wenn er an die Einführung der GST denkt. Datta leitet die indische Tochtergesellschaft des deutschen Unternehmens Kurz mit Hauptsitz in Fürth. Was einst der Firmengründer Leonhard Kurz im späten 19. Jahrhundert mit der Fertigung von Blattgold begann, entwickelte sich in der Nachkriegszeit zu einem führenden Unternehmen in der Beschichtungstechnik, mit Produktionsstätten in Europa, Amerika und Asien. Für den indischen Markt liefert Kurz vor allem hochwertige Folien für Verpackungen. Datta beschäftigt 39 Mitarbeiter. Um alle Steuerformalitäten abzuwickeln, braucht er drei Fachkräfte rund um die Uhr. "Das ist ein gewaltiger Aufwand. Und ich bin mir sicher, dass wir ihn mit GST erheblich reduzieren können." Damit würden Kapazitäten frei, die er ins Marketing stecken kann. "Ich stehe 100 Prozent hinter der Reform, sie wird mein Leben als Unternehmer sehr viel leichter machen."

Es sind allerdings auch Stimmen zu hören, die weniger Euphorie versprühen. Manche Geschäftsleute klagen über eine unnötige oder gar unzumutbare Hast. Wie sehr es beim Umbau knirschen wird, bleibt offen. Unternehmer Datta erschreckt das alles nicht. "Wir haben gute IT-Systeme im Land und wir schaffen das", glaubt er.

Für Premier Modi hat die GST auch politisch großes Gewicht, sie gilt als Ausweis für die Reformfähigkeit seiner Regierung. Modi ist angetreten, um Indien zu modernisieren und "zu entwickeln", wie er gerne sagt. Diese Steuer ist eines der Kernprojekte seines Versprechens, er nennt es das "Neue Indien". Viele Jahre lang haben Unternehmer ein einfacheres und einheitliches Steuersystem ersehnt, doch die politische Gemengelage hat die Reform stets verhindert. Wer regierte, wurde beim Versuch, das Steuersystem zu reformieren, jeweils durch Regierungen in den Bundesländern oder die Opposition im Parlament blockiert. Die hindu-nationalistische BJP hat nun allerdings so viel politisches Gewicht gewonnen, dass sie die Reform durchziehen kann. Früher, als sie in der Opposition war, hatte sie das abgelehnt, der damals dominierenden Kongresspartei war der Triumph offenbar nicht zu gönnen. Derek O'Brien, Parlamentarier im indischen Oberhaus, bilanziert: "Es hat sich 17 Jahre lang hingezogen, GST einzuführen. Und schuld daran ist der Egoismus unserer beiden größten Parteien."

Kritiker bemerken, dass auch die nun durchgedrückte Reform nicht die ideale Vereinfachung sei, manche sagen, der Umbau sei mit zu vielen Kompromissen auf halbem Weg stecken geblieben. Tatsächlich spaltet sich die neue Mehrwertsteuer in drei Komponenten auf: Einen Teil erhebt die Zentralregierung, einen anderen die Bundesländer, und darüber hinaus gibt es noch eine Mischform aus beiden. Vier verschiedene Sätze von fünf bis 28 Prozent sollen künftig gelten.

Die Umstellung soll auch die Korruption eindämmen

Ist das übersichtlich? "Es wird in jedem Fall deutlich einfacher als bisher", sagt Berater Ruppert. "Aber man muss sich jetzt gut vorbereiten. Umsatzsteuern sind immer eine komplizierte Materie, und die Zeit bis zur Einführung ist denkbar kurz." Zwei große Vorteile zeichnen sich nach Ansicht von Steuer- und Wirtschaftsexperten bereits ab: Zum einen dürfte die Umstellung auf ein Online-System das Korruptionsrisiko generell vermindern. Es sind künftig weniger verschiedene Anlaufstellen involviert. Und das System ist transparenter, sodass es nicht mehr so einfach sein dürfte, künftig die Hand aufzuhalten.

Zum anderen soll die Reform das sogenannte "Kaskadensystem" aufbrechen, das in Indien vielfach zu einer Verteuerung von Waren führt, weil einzelne Steuern nicht abzugsfähig sind oder ein möglicher Abzug nicht gut funktioniert. Das führt dazu, dass sich Steuern von Zwischenhändler zu Zwischenhändler immer weiter aufaddieren. "Das fällt nun alles weg", erklärt der Wirtschaftswissenschaftler Rajasenan. "Weil die neue Steuer durchgängig abzugsfähig sein wird."

Und die Trucker? Dürfen sie sich tatsächlich freuen? Die Meinungen darüber gehen auseinander: "Ich bin mir sicher, dass nun bald Schluss ist mit den riesigen Schlangen an den innerindischen Grenzen", sagt Rajasenan. "Mit der neuen GST gibt es für die meisten Trucks keinen Grund mehr, an einem Checkpoint aufgehalten zu werden." Der deutsche Berater Ruppert ist sich noch nicht sicher, ob die Kontrollpunkte nun alle verschwinden. "Das wird sich erst zeigen, sobald die Steuer eingeführt ist." Bis dahin träumen die Trucker weiter: Einmal quer durch Indien. Ohne Checkpoint und ohne Schranke.

© SZ vom 20.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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