Großbritannien:100 Wochen Unsicherheit

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Die Brexit-Verhandlungen werden lange dauern, das lähmt die Wirtschaft. Die Notenbank reagiert drastisch.

Von Harald Freiberger und Lea Hampel, München

Brexit ist, wenn man trotzdem reist: An den drei Londoner Flughäfen ist von einem wirtschaftlichen Einbruch wenig zu spüren. Beobachter meinen sogar mehr Reisende wahrzunehmen als vor dem Referendum zum Austritt aus der EU. Die Touristen kommen auch, weil die sonst so teure Stadt seit dem 23. Juni erschwinglicher geworden ist: Das britische Pfund hat gegenüber dem Euro seit dem Brexit fast zehn Prozent verloren.

Der London-Tourismus ist aber der einzige Bereich der britischen Wirtschaft, der vom Referendum beflügelt wird. In allen anderen Branchen nimmt die Furcht vor einem Abschwung zu. Das zeigen auch die harten Maßnahmen der Bank of England am Donnerstag: Sie senkte die Zinsen auf ein historisches Tief von 0,25 Prozent, sie weitete das Anleihen-Kaufprogramm aus, sie sprach von "deutlich abgeschwächten Aussichten" für die britische Wirtschaft.

Die Notenbank will zwar nicht von einer Rezession reden, also einem Abrutschen der Wirtschaftsleistung in zwei aufeinander folgenden Quartalen. Doch klar ist, dass sich das bisherige Wachstum verringern wird, und zwar massiv. Davor warnten zahlreiche Ökonomen und Notenbank-Chef Mark Carney schon vor Wochen.

Nur wenige hatten mit dem Brexit gerechnet. Entsprechend gut war die Stimmung vor der Abstimmung. Im zweiten Quartal dieses Jahres war die britische Wirtschaft noch um 0,6 Prozent gewachsen, vor allem wegen der starken Industrie. Wäre die Entwicklung bis Ende des Jahres so weitergegangen, hätte die britische Wirtschaft 2016 um mehr als zwei Prozent zugelegt, deutlich stärker als etwa die Euro-Zone.

Fußgänger in London nahe der Bank of England: Die Währungshüter sind nervös, sie erwarten einen starken Wirtschaftsabschwung. (Foto: Paul Hackett/Reuters)

Doch der Brexit hat den positiven Trend abrupt beendet. Die Bank of England bleibt für 2016 zwar bei ihrer Prognose von 2,0 Prozent Wachstum, für 2017 korrigierte sie diese aber von 2,3 auf 0,8 Prozent. Das Problem ist nicht nur die Brexit-Entscheidung selbst, sondern die Unsicherheit, bis sie vollzogen ist. Wann und in welcher Form ein Austritt aus der EU tatsächlich kommt, steht noch lange nicht fest. Das hemmt langfristige Entscheidungen von Unternehmen, etwa in neue Fabriken oder in Immobilien zu investieren. Auch dass Theresa May, die neue Premierministerin, angekündigt hat, harte und damit lange dauernde Verhandlungen über den Austritt zu führen, macht die Lage nicht sicherer. Derzeit heißt es, die Gesprächen könnten etwa zwei Jahren dauern - für die Wirtschaft sind das zwei Jahre Unsicherheit.

"Auf längere Sicht werden alle Branchen, die auf ausländisches Kapital angewiesen sind, betroffen sein", sagt Peter Dixon, Volkswirt bei der Commerzbank.

Erste Anzeichen für den Abschwung gibt es bereits: Die jüngsten Frühindikatoren zur Unternehmens- und Verbraucherstimmung sind regelrecht eingebrochen. So signalisiert der Einkaufsmanagerindex für die Industrie im Juli einen merklichen Rückgang der wirtschaftlichen Aktivität. Im Dienstleistungssektor ist der Indikator so stark gefallen wie zuletzt vor 20 Jahren.

SZ-Grafik (Foto: sz)

Hausbesitzer fürchten, dass der Wert ihrer Immobilien sinkt - Käufer fordern schon Abschläge

Vor allem die Immobilienbranche darbt. Zum ersten Mal seit Jahren gehen die Preise in der Londoner Innenstadt zurück, die Beratungsfirma Knight Frank rechnet über das Jahr 2016 mit einem Minus von 1,5 Prozent. Private Immobilienbesitzer sorgen sich um den Wert ihrer Häuser und Wohnungen. "Seit der Abstimmung haben viele Käufer einen Abschlag wegen der politischen und wirtschaftlichen Unsicherheit gefordert", sagt Knight-Frank-Experte Tom Bill. Auch die Zahl der Aufträge schrumpft so stark wie zuletzt vor sieben Jahren. Doch auch andere Branchen sind bereits betroffen: Die Großbank Lloyds kündigte an, 200 Filialen zu schließen und 3000 Jobs zu streichen.

Die Regierung reagierte schon vergangene Woche auf die schlechten Prognosen: Finanzminister Philip Hammond kündigte für den Herbst ein Konjunkturprogramm an: "Zusammen mit der Bank of England wird diese Regierung alles tun, was notwendig ist, um die Wirtschaft zu unterstützen", sagte er. Die Unternehmen treibt indes etwas anderes um: Der Industrieverband CBI und andere Organisationen fordern von der Regierung, gute Bedingungen für einen Brexit auszuhandeln. Das ist dringend nötig, schließlich gehen 45 Prozent der britischen Exporte in die EU, 53 Prozent der Importe kommen aus der EU.

So sollen die Unternehmen weiter Arbeitnehmer aus der EU rekrutieren können, Zugang zu EU-Fördermitteln haben und denselben Regeln unterliegen. Schon jetzt werben die Autohersteller, die geschlossen für einen Verbleib in der EU waren, dafür, dass ihr Zugang zum Binnenmarkt gesichert werden müsse. Vor allem aber fordert die Wirtschaft einen Zeitplan für den Brexit, denn eines kann sie sich nicht leisten: 100 Wochen Unsicherheit.

© SZ vom 05.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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