Google Wave:Ekstase um ein Phantom-Produkt

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Googles Kollaborationsplattform "Wave" geht in die Testphase. Die Netzgemeinde rätselt: Welche Revolution wird dieses Mal ausgerufen?

Johannes Kuhn

Rund 100.000 Internetnutzer hat Google seit Mittwoch eingeladen, sein neues System "Google Wave" zu testen. Es scheinen die richtigen gewesen zu sein, denn seit Donnerstag dominiert das Thema die Netzwelt.

Tausende Blogeinträge sind inzwischen zum Thema erschienen, im Mikroblogging-Dienst Twitter gingen noch am Freitag minütlich um die hundert Nachrichten ein, die sich mit Googles neuestem Streich beschäftigten. Viele davon waren flehentliche Bitten, doch ebenfalls eine Einladung zum Testen zu erhalten. Ein US-Blogger versteigerte seinen Zugang für 157 Dollar auf Ebay, in Deutschland war zwei Bietern die Teilnahme an der Testphase immerhin je 50 Euro wert.

Wave soll in Sachen kollaborativer Zusammenarbeit Maßstäbe setzen: Es fungiert zugleich als Messenger, Arbeitsfläche und Echtzeit-Wiki. So können mehrere Benutzer gemeinsam Dokumente editieren, während sie gleichzeitig per Mail oder Chat über die Veränderungen diskutieren.

Plattform für die Weisheit der Vielen

Da die Benutzer das System per Drag & Drop bedienen, soll die gemeinsame Arbeit an Projekten so flink wie intuitiv von der Hand gehen. Offene Schnittstellen ermöglichen bereits jetzt das Einbinden von Videos, Fotos oder Dokumenten.

Das weckt Fantasien: Die Weisheit der Vielen, so eine Hoffnung, könnte durch Google Wave endlich zur koordinierten Zusammenarbeit der "Crowd" führen, spontane Ideen und Debatten schnell in kreative Projekte umgesetzt werden.

Die ersten Testberichte zeigen, dass die Entwickler der Plattform durchaus die Fallen großangelegter Projekte verstanden haben: Sind bei Wikipedia Entstehung und Änderungen nur über mühsames Durchklicken nachzuvollziehen, löst Google dieses Problem spielerisch. Über die Playback-Funktion kann sich der Benutzer entlang eines Zeitstrahls navigieren, um die Entwicklung eines Dokuments zu verfolgen. Kleine Hilfsprogramme erleichtern die Arbeit, indem sie die Projekte in Blogs exportieren oder die Kollaborateure zu einer Telefonkonferenz verbinden.

Wissenschaftlern könnte dies zum Beispiel die gemeinsame Forschungsarbeit erleichtern; Los-Angeles-Times-Autor Mark Milian träumt in einem Blogeintrag bereits davon, wie das System dem Journalismus endlich kollaborative Projekte ermöglicht.

Der Analyst Rob Enderle sieht Wave sogar als Grundlage für neue, dezentrale soziale Netzwerke, die sich um einzelne Projekte herum gruppieren. "Alle in diesen Geschäftsfeldern - Twitter, Facebook und MySpace - sind im Moment nervös.", sagte er dem Branchennewsdienst IDG News Service, "Und wenn sie es nicht sind, haben sie ein Memo verpasst."

Doch das wären für Google nur erfreuliche Nebeneffekte: Tatsächlich dürften die Kalifornier vor allem große Unternehmen als Benutzer im Auge haben. Weil das Entwicklungsteam den Code nach und nach freigeben wird, könnten Firmen und Softwareentwickler prinzipiell maßgeschneiderte Arbeitsflächen für kollaborative Projekte schaffen.

Visionäres Projekt oder "Aufmerksamkeitsmüllhalde"?

Unternehmensdienstleistungen sind ein Geschäftsfeld, in dem Google bislang noch vergleichsweise schwach vertreten ist. Das Geschäftsmodell: Die Kalifornier planen ein Portal zum Verkauf von zusätzlichen Anwendungen, ähnlich Apples App-Store für das iPhone. Bereits jetzt entwickeln Anbieter von Geschäftsanwendungen wie SAP und Salesforce.com probeweise Applikationen, die auf Google Wave basieren.

Erst einmal muss sich Google Wave jedoch den Privatnutzern beweisen. Der Realitätstest verläuft dabei an einigen Stellen wenig zufriedenstellend: Im Moment ist es unmöglich, das System im Microsoft-Webbrowser Internet Explorer zu starten.

Auch mancher Technologie-Experte äußert sich kritisch: Der angesehene Tech-Blogger Robert Scobble prophezeit nach seinem Test bereits, dass Google Wave den hohen Erwartungen nicht gerecht werden kann. "Auf meiner Google-Wave-Seite schreiben mir Dutzende Menschen gleichzeitig, in Echtzeit. Ich weiß nicht, wo ich hinsehen soll", schreibt er. Die Benutzung in größeren Gruppen würde Google Wave zu einer "Aufmerksamkeitsmüllhalde" machen und "die Produktivität zerstören".

Solange sich Google Wave in der Testphase befindet, dürfte es weiterhin viel Raum für Zukunftsfantasien bieten. Die hohe Welle der Euphorie könnte jedoch bald an den hohen Erwartungen brechen.

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