Gesellschaft:Abstieg aus der Mittelschicht

Lesezeit: 2 min

Die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich weiter: Arme kommen nicht nach oben; das Risiko, aus der Mittelschicht abzusteigen, erhöht sich hingegen. Das zeigt eine Studie.

Von Thomas Öchsner, Berlin

Die Aufstiegschancen einkommensschwacher Haushalte sind gesunken, für die Mittelschicht ist hingegen das Risiko gewachsen, finanziell abzusteigen. Das geht aus dem neuen Verteilungsbericht des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böcker-Stiftung hervor. Zunehmend gelte die Regel "einmal reich - immer reich, einmal arm - immer arm", sagt die Autorin der Untersuchung, Dorothee Spannagel. Grundlage für die Berechnungen ist das Sozio-oekonomische Panel (SOEP). Dabei werden jedes Jahr etwa 20 000 Menschen nach ihrer Lebenssituation befragt.

Um die Aufstiegschancen in der Gesellschaft analysieren zu können, teilte die Forscherin die Bevölkerung in sechs Gruppen auf: Ganz oben sind die sehr Reichen, deren Einkommen mindestens dreimal so hoch ist wie der Median. Dieser Wert ist das Einkommen, das genau in der Mitte liegt, wenn man alle Einkommen der Größe nach anordnet. 2012, spätere Einkommensdaten liegen aus dem SOEP noch nicht vor, betrug dieser Wert für einen Einpersonenhaushalt im Monat 1666 Euro.

Neben den sehr Reichen gibt es in dieser Klassifizierung Reiche, Wohlhabende, obere Mitte, untere Mitte und Arme. Als Einkommensreiche gelten dabei Menschen mit dem Doppelten des mittleren Einkommens. 2012 war dies für einen Einpersonenhaushalt ein verfügbares Einkommen von etwa 3300 Euro pro Monat und für eine Familie mit zwei Kindern unter 14 Jahren etwa 6900 Euro monatlich.

Grundsätzlich ist die Mobilität zwischen diesen Einkommensgruppen stark eingeschränkt. In über der Hälfte der Fälle bleiben die Menschen in ihrer Ursprungsklasse haften oder wechseln allenfalls in eine direkt benachbarte Klasse, wobei das obere Ende noch stabiler ist als das untere. Auffällig ist laut der Untersuchung nun, dass sich die Zugehörigkeit zu einer der Klassen verfestigt hat. In den Jahren 2005 bis 2012 sei der Anteil der Personen, die ihre Klasse nicht verlassen haben, deutlich gestiegen, heißt es in der WSI-Studie. Gleichzeitig hätten sich besonders die obere und die untere Mitte "zu Klassen mit deutlichen Abstiegschancen" entwickelt. "Vor allem in der unteren Mitte steigen deutlich mehr Personen zu den Armen ab, als dies in den 1980er-Jahren der Fall war", schreibt die Autorin. Sehr Reiche müssten jedoch seltener als in den 1980er-Jahren einen Abstieg befürchten. "Großer Reichtum wird immer dauerhafter. Immer mehr Personen sind von verfestigter Armut betroffen", heißt es dazu in der Untersuchung. Dabei seien die verringerte Aufstiegsmöglichkeit und die wachsende Einkommensungleichheit "eng miteinander verknüpft".

Wie bereits in anderen Untersuchungen, unter anderem vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), wird in der WSI-Studie festgestellt, dass die Einkommen seit Ende der Finanzmarktkrise wieder auseinanderdriften. "Der konjunkturelle Aufschwung kommt nicht bei allen an", sagt Autorin Spannagel.

Am geringsten ist die Ungleichheit in Norwegen, am höchsten in Lettland

So stieg das international anerkannte Maß für Ungleichheit, der sogenannte Gini-Koeffizient, für die verfügbaren Haushaltseinkommen 2012 in Deutschland wieder auf 0,288. Liegt dieser bei null, hätten alle verglichenen Personen genau das gleiche Vermögen. Beläuft er sich auf eins, würde nur eine Person alles besitzen und alle anderen gar nichts haben. Zwischen 2005 und 2010 war der Wert noch leicht auf 0,280 zurückgegangen. Die Konzentration der Einkommen habe - trotz des Beschäftigungsbooms in Deutschland - fast das Niveau von 2005 erreicht, schreibt Spannagel.

Deutschland liegt derzeit aber immer noch leicht unterhalb des EU-Schnitts, obwohl die Ungleichheit hierzulande seit dem Jahr 2000 stärker als in allen anderen EU-Ländern gewachsen ist. Am geringsten ist, gemessen am Gini-Koeffizienten, die Ungleichheit in Norwegen, am höchsten in Lettland. Die Zunahme der Ungleichheit bei den Einkommen dürfte vor allem auf die Kursanstiege an den Börsen seit der Finanzkrise zurückzuführen sein. Auch die Autorin der Studie hebt "die wachsende Bedeutung von Kapitaleinkommen" hervor, auf die besonders Wohlhabende zurückgreifen können.

© SZ vom 27.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: