Nachruf:Herr der Daten

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Gert G. Wagner ist mit 71 Jahren gestorben. (Foto: FLORIAN SCHUH/DIW)

Der frühere DIW-Chef Gert G. Wagner hat die größte Langzeitstudie darüber aufgebaut, wie viel die Deutschen verdienen, wie es ihnen geht und was sie politisch denken. Damit hat er weltweit ein Vorbild geschaffen.

Von Alexander Hagelüken

Man hätte an diesem Sommertag 1999 in Wiesbaden vieles tun können. In der Sonne einen Cappuccino trinken. Beim Italiener auf der Terrasse in Ruhe ein paar Nudeln essen. Gert G. Wagner aber schleppte den Reporter sofort in die stickigen Räume dieser Statistikertagung, weil es ihm mal wieder um die Daten ging. Um präzisere Zahlen über das Leben der Menschen, damit Politiker dieses Leben verbessern können. Gert G. Wagner hat sich um dieses Datensammeln verdient gemacht wie kaum jemand in Deutschland.

Wie zentral Informationen für eine gute Politik sind, zeigt sich dauernd. Als die Bundesregierung 2022 den Inflationsschock durch eine Gaspreisbremse abfederte, wusste sie erschütternd wenig darüber, wer genau wie viel verbraucht. Die Preisbremse drohte dem Millionär in der Villa mehr zu helfen als der Geringverdiener-Familie mit drei Kindern. Den Ökonomen Wagner hat es stets fuchsig gemacht, wie schlecht oft die Daten für Entscheidungen sind - und wie wenig Politiker dafür tun, das zu ändern.

1989 startete er als junger Forscher beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin, um es ganz anders zu machen. Er baute das ebenfalls noch junge Sozio-oekonomische Panel (Soep) auf und aus. Dabei werden jährlich 30 000 Menschen über ihr Leben befragt: Wie sie arbeiten, wie viel Geld sie haben, wie sie wohnen, wie es ihnen gesundheitlich geht, wie zufrieden sie sind oder was sie politisch denken. So ist ein riesiger Datenschatz für unzählige Forschungsarbeiten entstanden. Da auch immer wieder dieselben Menschen antworten, werden Entwicklungen klar.

"Es ist die zweitälteste Längsschnittstudie dieser Art in der Welt", sagt C. Katharina Spieß. Die Ökonomin leitet heute das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung. Damals war sie Gert Wagners erste Doktorandin. "Er war unglaublich innovativ", erzählt sie. "Er griff nach den Sternen und holte sie runter, jedenfalls teilweise. Wenn er sich was in den Kopf gesetzt hatte, drängte er bis zum Ergebnis". Nobelpreisträger James Heckman in den Soep-Beirat holen? Daran glaubte keiner. Wagner bequatschte ihn.

Bis 2011 leitete er das Soep, dann wurde er in einer Krise Chef des DIW und blieb danach lange im Vorstand. Als Uni-Professor forschte er vor allem zu Sozialstaat und Arbeitsmarkt. Schon an dem Sommertag 1999 in Wiesbaden hielt er ein flammendes Plädoyer, wie sich die Massenarbeitslosigkeit durch finanzielle Anreize reduzieren ließe. Von 2014 an leitete er den Sozialbeirat der Bundesregierung und saß in einer Reformkommission für die Rente. Dabei forderte er weder Rentenkürzungen, so wie es mancher marktliberaler Haudrauf tut, noch nährte er die sozialromantische Illusion, man müsse am Alterssystem gar nichts ändern.

Im Fußball war er für seinen harten Schuss bekannt

"Die meisten Arbeitnehmer wären fit genug, länger zu arbeiten", dozierte er einem in der Kantine des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in den Block. Aber dafür müssten sich die Unternehmen ändern, die Ältere ignorierten, anstatt sie durch schonendere und anregendere Jobs zu halten. Die Datenfrage trieb ihn weiter um. Die Senkung des Spitzensteuersatzes ab den 1980er-Jahren basiere auf falschen Zahlen, argumentierte er. Dadurch sei das Steuersystem für Normalverdiener ungerecht geworden.

Gert Wagner war kein Wirtschaftsnerd. Er interessierte sich für viele Fachdisziplinen, aber auch ganz andere Dinge, wie Essen - und Fußball. Wer als Gast mit ihm im DIW-Team kickte, lernte seinen harten Schuss zu fürchten. Ging ihm der Ball - wie durchaus öfter - daneben, rief er stets: "Da war schon viel Schönes dran!" Noch vergangene Woche mailte er mit C. Katharina Spieß. Er sei etwas angeschlagen, sie sollte das gemeinsame Papier schon einreichen. Nun ist er plötzlich und unerwartet gestorben, mit erst 71 Jahren.

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