Zu einer anderen Zeit wäre Jack Dorsey vielleicht großer Verleger geworden. Immerhin sagt er Sätze wie: "Meine Rolle ist es, alles, was auf der Welt passiert, in Echtzeit darzustellen und diese Daten so aufzubereiten, dass wir unsere Leben schneller ändern können." Doch Dorsey ist kein Zeitungsmann oder Publizist, der 34-Jährige ist Programmierer. Jack Dorsey ist einer der Gründer und Chefs von Twitter.
Die amerikanische Zeitschrift Vanity Fair hat den wegen seines Facebook-Buchs bekannten Autor David Kirkpatrick mit einem Porträt beauftragt, um zu ergründen, wer dieser Dorsey denn sei. Immerhin ist es in dieser Woche fünf Jahre her, dass der erste sogenannte Tweet über die Micro-Blogging-Plattform verschickt wurde.
Dabei handelt es sich um eine auf 140 Zeichen reduzierte Statusmeldung. Die erste von mittlerweile rund 140 Millionen Botschaften täglich, die nach Unternehmensangaben über Twitter versendet werden. Sie stammte von Dorsey, und an vielen Orten auf der Welt hofft man, das Prinzip und den Erfolg von Twitter vielleicht verstehen zu können, wenn man herausfindet, was Jack Dorsey antreibt.
Und so schreibt David Kirkpatrick auf, welche Kleidung Dorsey trägt (Prada-Anzug), dass er sich vor kurzem sein erstes Auto gekauft hat (BMW) und jeden Morgen als erstes eine SMS an seine Mutter schreibt. Doch all das liefert kaum Antwort auf die Frage: Was ist so besonders an diesem Dienst, dass heute die ganze Welt entweder in skeptisch-ablehnende oder euphorisch-begeisterte Aufregung verfällt, wenn das Gespräch auf die 140Zeichen kommt, die ein jeder über Twitter versenden kann?
Jack Dorsey weiß darum und schenkt der Welt deshalb die Anekdote, dass er sich sehr fürs Ballett begeistern kann. Schließlich stecke in einer gekonnten Aufführung viel Koordination und Disziplin. "Etwas sehr Einfaches zu schaffen, ist oft sehr kompliziert", sagt er und weiß, dass er damit eher über seinen reduzierten, einfachen Dienst spricht als über Ballett.
Futter für die Wartezeit
Denn der Trick, in der digitalen Welt, die eigentlich keine Begrenzungen mehr kennt, eine Beschränkung auf 140 Zeichen einzuführen, ist sicher eines der Erfolgsgeheimnisse von Twitter. So füllen die Kurzmitteillungen für viele Nutzer des Dienstes - auf dem Smartphone gelesen - die leere Zeit beim Warten auf die U-Bahn oder in kurzen Pausen.
Diese Klarheit stellt der Autor und Medientheoretiker Douglas Rushkoff als Erfolgsgeheimnis von Twitter heraus, das er als das erste Rundfunk-Medium aller Menschen bezeichnet ("the first people's broadcast medium"). "Das Beste an Twitter", sagt er, "ist, dass es nicht so klebrig ist wie Facebook. Es ist reduziert darauf, Tweets zu verbreiten. Ich kann Informationen rausschleudern, ohne welche zu empfangen."
Menschen, die zum Veröffentlichen bisher auf die exklusiven Publikationsmöglichkeiten der Massenmedien angewiesen waren, nutzen nun Twitter um rauszuschleudern, wie Rushkoff es nennt.
Das tun Prominente - wie zuletzt sehr öffentlichkeitswirksam Charlie Sheen - genauso wie jene, die nicht ständig in der Presse auftauchen. Sie können senden, aber auch anderen folgen, also deren Tweets abonnieren.
So entsteht ein flüchtiger Strom an Nachrichten, der am ehesten mit einem sortierten Small-Talk zu vergleichen ist: Beobachtungen, Befindlichkeiten und Verweise vermischen sich mit von klassischen Medien verschickten Meldungen zu einem Informationsfluss. Menschen bewegen sich nicht mehr suchend, sondern auf Hinweis von Bekannten und Freunden durchs Netz.
"Folge deinen Interessen" haben die Twitter-Macher ans Ende ihres kleinen Geburtstags-Werbeclips geschrieben, in dem neben anderen Rapper Snoop Doggy Dog und die amerikanische Außenministerin Hillary Clinton erklären, warum sie Twitter nutzen - weil sie hier die Informationen und Kontakte finden, die ihnen weiterhelfen. Eine deutsche Stimme findet sich in diesem Film, in dem sich auch Spanier und Franzosen zu Wort melden, übrigens nicht. Hierzulande gilt Twitter vielen häufig noch als überflüssige Plauderbude.
Dass es um viel mehr geht, erkennen westliche Medien sehr leicht, wenn sich die Demokratisierung der Publikationsmittel in arabischen Ländern zuträgt. Aber natürlich gilt auch im Westen, was man zum Beispiel über die Jugend Ägyptens lesen kann: Die mit dem Internet sozialisierte Generation wird nicht mehr hinter den Demokratisierungsgrad zurückgehen, den unter anderem auch Twitter ermöglicht hat. Sie hat sich daran gewöhnt, Nachrichten auf diese Art zu verbreiten und zu konsumieren. Dabei spielt Twitter selber übrigens eine nachgelagerte Rolle.
Es geht nicht um die Firma, die Jack Dorsey mit ein paar Arbeitskollegen im Frühjahr 2006 erfunden hat. Es geht um das Prinzip, das Twitter begründet hat. Der neue Informationsfluss wird sich seinen Weg suchen, auch wenn es Twitter vielleicht nicht mehr geben sollte oder womöglich neue Anbieter aufkommen. Denn wie die Dienste am Ende heißen, die ihn kanalisieren, wird auf den Strom kaum Auswirkungen haben.
Twitter war der Anstoß für einen kommunikativen Wandel, der am ehesten mit der Erfindung des Telefons zu vergleichen ist. Menschen nutzen es, um miteinander zu kommunizieren. Diese kommunikative Komponente ist im öffentlichen und veröffentlichten Raum neu, sie muss gelernt und gestaltet werden. Twitter erzwingt und ermöglicht Dialog und führt zu einem grundlegenden Wandel der Alltagskultur.
Warum ist Mubarak zu spät?
Menschen verfolgen beispielsweise eine Fernsehsendung nun tatsächlich gemeinsam, indem sie auf Twitter parallel zum TV-Geschehen Tweets verfassen und lesen. Dabei verständigen sie sich über Hashtag genannte Kurzschlagworte, die mit dem Symbol # gekennzeichnet sind. Da zeigen sie auch, dass in dem globalen digitalen Dorf Humor ein verbindendes Element sein kann.
Das kann man bei Live-Events verfolgen, es zeigte sich aber auch, als der damalige ägyptische Präsident Mubarak am Tag vor seinem Rücktritt verspätet in Kairo auftrat. Die globale Twitter-Gemeinde vertrieb sich die Zeit mit Spekulationen über Gründe für seine Verspätung. Das Schlagwort #reasonsmubarakislate wurde so zu einem globalen Schmunzeln in angespannter Lage.
Wer übrigens verstehen will, was Jack Dorsey mit all dem zu tun hat, muss weniger seine Kleidung studieren. Viel bedeutsamer ist es, seine Investitionen und neuen Projekte zu beobachten. Im Jahr 2009 erfand er den Dienst Square, der Kreditkartenzahlungen auf dem Mobiltelefon ermöglichen soll. Ein System also, das Geld für jedermann genauso mobil und digital verfügbar machen will wie Twitter es mit Informationen getan hat.