Foodsharing:Lebensmittel retten? Verboten!

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Die meisten Lebensmittel werden in den Haushalten weggeworfen. (Foto: Patrick Pleul/dpa)
  • Die Deutschen werfen jährlich durchschnittlich 80 Kilogramm Lebensmittel in den Müll.
  • Die Initiative Foodsharing will diese Verschwendung reduzieren und stellt Kühlschränke auf, in die noch verzehrbares Essen gelegt werden kann.
  • Die Berliner Veterinär- und Lebensmittelaufsicht sieht das kritisch und will die Kühlschränke als Lebensmittelbetriebe klassifizieren - mit deutlich strengeren Auflagen.

Von Hannah Beitzer und Vivien Timmler, Berlin/München

Sechs Paletten voller Brot schichtet Gerard Roscoe am Hintereingang des Bio-Supermarkts in seine Fahrradtaschen um. Danach stöbert er durch drei Kisten Obst und Gemüse. Er reißt einen Beutel Mandarinen auf, schmeißt zwei schimmelige weg und packt die anderen in eine Tüte. Auch Topinambur, Tomaten, Fenchel und Sellerie verstaut er in seinen Taschen. All diese Lebensmittel würden ansonsten im Müll landen, weil sie nicht mehr frisch genug aussehen oder aus anderen Gründen nicht den Verkaufsstandards des Supermarkts entsprechen. Dabei sind sie nicht verdorben, sondern einwandfrei.

Roscoe bringt sie in einen Hinterhof im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg. Dort stehen zwei sogenannte "Fairteiler": Kühlschränke, aus denen sich die Nachbarn bedienen und in die sie auch selbst Lebensmittel legen können, die sie sonst wegwerfen würden. "Foodsharing" heißt dieses Konzept, das es außer in Berlin auch in anderen Städten gibt. "Wir finden es falsch, dass so viele Lebensmittel im Müll landen", sagt Roscoe, der diese Arbeit wie etwa 3000 andere aktive Foodsharer in Berlin ehrenamtlich macht. Noch.

Die Behörden wollen die Kühlschränke mit strengen Auflagen regulieren

Denn die Berliner Veterinär- und Lebensmittelaufsicht hat ein Problem mit den Kühlschränken. Schmutzig seien sie, es komme zu grundlegenden Lebensmittelverstößen und niemand fühle sich dafür zuständig, sagt der Pankower Bezirksstadtrat Torsten Kühne. "Der Inhalt der Kühlschränke ist potenziell gesundheitsgefährdend, deshalb müssen wir einschreiten." Wir, damit meint Kühne unter anderem das Veterinäramt Pankow und dessen Leiter Lutz Zengerling. Er ist der Ansicht, es handle sich bei der Initiative "Foodsharing e.V." um ein Lebensmittelunternehmen. Auch der Berliner Senat hat sich kürzlich hinter ihn gestellt.

Die Behörden gehen jedoch noch einen Schritt weiter: Sie wollen die "Fairteiler"-Stellen als Lebensmittelbetriebe klassifizieren. Damit müssten sie künftig deutlich strengere Auflagen erfüllen - auch Schlachthäuser sind beispielsweise Lebensmittelbetriebe. Jeder Kühlschrank müsste ständig von einer verantwortlichen Person beaufsichtigt werden, alle gespendeten Lebensmittel müssten in eine Liste eintragen und beschriftet werden. Andernfalls drohe eine Strafe von 50 000 Euro oder gleich die Schließung, sagt Kühne.

Dabei steht fest, dass Lebensmittelverschwendung in Deutschland ein ernstes Problem ist. Knapp elf Millionen Tonnen verzehrbare Lebensmittel landen Jahr für Jahr im Abfall, der Hauptteil davon zu Hause: fast 6,7 Tonnen. Das sind durchschnittlich 80 Kilogramm pro Person im Jahr, wie die Universität Stuttgart in einer Studie herausgefunden hat. Die Bundesregierung hat sich vorgenommen, diese Menge bis 2030 zu halbieren. Initiativen wie Foodsharing können dabei helfen. Erst am Mittwoch hat das Bundesverbraucherministerium sie mit dem bundesweiten Preis "Zu gut für die Tonne" ausgezeichnet.

Hinzu kommt, dass die Initiative mit ihrem Konzept in keiner anderen Stadt so große Probleme habe wie in Berlin, erzählt ihr Bundesvorsitzender Frank Bowinkelmann. Fast überall sehen die Behörden die "Fairteiler"-Kühlschränke als "private Übergabeorte". Man sei froh, dass Foodsharing diesen Ansatz zur Vermeidung von Lebensmittelverschwendung verfolge, heißt es zum Beispiel aus dem Bayerischen Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit. Die Probleme der Berliner Behörden wirken vor diesem Hintergrund umso unverständlicher.

Sowieso gelten schon jetzt strenge Regeln für die Kühlschränke. So dürfen zum Beispiel kein Hackfleisch oder ähnliche schnell verderbliche Lebensmittel abgegeben werden. "Man darf nur das bringen, was man selbst noch essen würde", sagt Gerard Roscoe. Sauber sehen die Kühlschränke auch aus: Jeden Tag putzen Nachbarn sie mit Essigreiniger, sagt Roscoe.

SZ-Grafik; Quelle: Universität Stuttgart (Foto: SZ-Grafik)

Während Roscoe Brot in einen Schrank schichtet, kommt eine Nachbarin vorbei. Sie packt eine Handvoll Maracujas ein, einen Rotkohl und nimmt ein Netz Topinambur in die Hand. "Was ist das denn?", fragt sie. "Das ist eine Art Kartoffeln aus Mittelamerika", erklärt Roscoe. Schließlich verlässt die Nachbarin mit einem ganzen Sack Bio-Gemüse den Hinterhof. "Uns wird oft der Vorwurf gemacht, durch unsere Arbeit entstünde eine Zwei-Klassen-Versorgung", sagt Roscoe. "Dabei haben manche Leute nur durch unsere Kühlschränke überhaupt die Möglichkeit, an hochwertige Lebensmittel zu kommen." Viele Rentner nutzten die Kühlschränke, auch Hartz-IV-Empfänger oder Studenten mit wenig Geld. "Manche von ihnen müssten die Lebensmittel selbst aus dem Müll holen, wenn es die Kühlschränke nicht gäbe", sagt er. Andere kommen einfach, weil sie den Gedanken unerträglich finden, dass einwandfreie Lebensmittel weggeschmissen werden. "Bei uns muss niemand nachweisen, dass er bedürftig ist, wie das zum Beispiel bei den Tafeln der Fall ist", sagt er.

Auf einen Kompromiss will sich das Veterinäramt nicht einlassen

Um weiterarbeiten zu können, haben die Foodsharer den Berliner Behörden einen Kompromiss angeboten: Man könne Zahlenschlösser an die "Fairteiler" anbringen, deren Code lediglich an registrierte Spender und Konsumenten weitergegeben werde. Doch darauf will sich das Veterinäramt Pankow nicht einlassen. Niemand brauche einen 24-Stunden-Zugang zu einem solchen Angebot, so ihr Standpunkt.

Gerard Roscoe ist davon enttäuscht. Für ihn sind Auflagen wie eine permanente Überwachung der Kühlschränke reine Schikane: "Wir als ehrenamtliche Initiative können das nicht leisten." Die Behörden hätten sich auf Strafandrohungen und Maximalforderungen verlegt. "Dabei sollte der Staat engagierte Bürger unterstützen und ihnen keine Steine in den Weg legen", sagt er. Denn nur mit der Verleihung klangvoller Preise ändere sich nichts.

© SZ vom 16.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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