Finanzkrise in Island:Ein Land, das seine Unschuld verloren hat

Finanzkrise in Island: Blick über die Hauptstadt Reykjavík: Schätzungsweise 10 000 Isländer verloren in der Finanzkrise ihr Haus, weil ihnen die Schulden über den Kopf wuchsen.

Blick über die Hauptstadt Reykjavík: Schätzungsweise 10 000 Isländer verloren in der Finanzkrise ihr Haus, weil ihnen die Schulden über den Kopf wuchsen.

(Foto: Mauritius Images)

In Island brachen 2008 innerhalb weniger Tage die drei größten Banken zusammen. Danach fand der Staat seinen eigenen Weg aus der Krise - doch der große Optimismus ist dahin.

Von Silke Bigalke, Reykjavík

Die Gier, sagt Hallgrímur Helgason, stecke den Isländern im Blut, sie seien eben ein Fischervolk. Und wenn der Fisch um ihre Insel schwimme, müssten sie raus und ihn ins Trockene bringen. Der Fisch mache sie reich für den Moment und verschwinde womöglich im nächsten.

"Unsere Geschichte ist voll solcher Dinge, die kommen und gehen", sagt Hallgrímur Helgason und kaut auf seinem Lamm. Der Autor hat Zeit für ein Mittagessen im Café neben dem Parlament. Die Isländer seien gut darin, Gelegenheiten zu ergreifen. Die Makrele vor ihrer Küste. Die Energiegeschäfte mit der Aluminiumindustrie. Die Finanzdeals der Boomjahre. Nun der "Touristen-Tsunami", so nennt er es. "Das Beste daraus machen. Fürs Heute leben." So stürze Island schnell ins Desaster. Aber es komme genauso schnell wieder heraus.

Das Desaster von 2008 war für Hallgrímur Helgason ein Schlüsselmoment in der isländischen Geschichte. Sie sprächen davon fast wie von einem Krieg, teilten die Zeit in "vor dem Crash und nach dem Crash". Die Finanzkrise traf Island früher und härter als andere Länder in Europa. Es hat sich danach aber auch unglaublich schnell wieder erholt. Heute geht es Island so gut, dass manche bereits Angst vor dem nächsten Absturz haben. Vergangenes Jahr warnte der Internationale Währungsfonds: Die Wirtschaft wachse so schnell, dass sie wieder überhitzen könnte. Inzwischen hat sich das Wachstum normalisiert.

Schnell rein ins Desaster und schnell wieder raus? Was bleibt dabei hängen?

Im Herbst 2008 brachen innerhalb einer Woche die drei größten Banken des Landes zusammen. Ein Erdbeben, wie es selbst die erdbebengestählten Isländer nie erlebt hatten. "Man denkt: Oh, diese Nachbarschaft ist sicher, und dann stürzt auch die ein", sagt Helgason.

Die Banker hatten mit Geld um sich geworfen und in Beteiligungen investiert, die sie nicht verstanden. Ausländische Sparer legten wegen der hohen Zinsen in Island an, geliehene Dollar oder Euro, die sie gegen isländische Kronen tauschten. Die drei großen Banken, Glitnir, Landsbanki und Kaupthing, hielten schließlich Anlagen, die zehnmal mehr wert waren, als Island im Jahr erwirtschaften konnte.

Importe wurden teuer und trieben die Inflation in die Höhe

Auf den Zusammenbruch reagierte die Regierung in besonderer Weise: Sie führte Kapitalkontrollen ein, unterband den Handel mit der Krone, fror Anlagen ein, ließ die Banken Pleite gehen. Andernfalls wäre das Land wohl in den Bankrott gestürzt.

Ein häufiges Missverständnis, sagt Már Guðmundsson, Präsident der Isländischen Zentralbank. "Wir haben den großen, international tätigen Banken erlaubt, unterzugehen", sagt er. "Aber den heimischen Teil des Banksystems haben wir gerettet, zu erheblichen Kosten." Dafür verschuldete sich Island zwar unter anderem beim Internationalen Währungsfonds. Isländische Haushalte und Unternehmen konnten aber weiter auf ihre Bankkonten zugreifen. Und ausländische Investoren verloren. Ein Weg, den Már Guðmundsson weiterempfiehlt: Man sollte nicht die Banker retten oder die Bankbesitzer, man sollte nicht allen Gläubigern garantieren, dass sie ihr Geld wieder bekommen, sagt er.

Der Wert der Krone fiel. Importe wurden teuer und trieben die Inflation in die Höhe. Andererseits lockte die schwache Krone Touristen an. Und sie half Exporteuren, die Fisch, Aluminium oder wie Autor Hallgrímur Helgason Bücher ins Ausland verkauften. Island verkaufte wieder mehr, als es einkaufte. Die Wirtschaft wuchs. Vergangenes Jahr hat die Regierung die Kapitalkontrollen fast vollständig aufgehoben. Die Isländer dürfen mit ihren Kronen nun wieder machen, was sie wollen.

Einige warnen, es nicht wieder zu weit zu treiben

Als Már Guðmundsson vor neun Jahren seinen Job in der Schweiz aufgab, um Islands Zentralbank zu leiten, hätte er nicht damit gerechnet, dass es so gut läuft. Nun sitzt er in der Chefetage vor dem Panoramafenster mit Blick auf die Konzerthalle Harpa. Die haben Staat und Stadt trotz allem gebaut - ein Zeichen auch für isländischen Trotz. Das Bruttoinlandsprodukt ist heute höher als vor der Krise. Die Arbeitslosigkeit ist niedrig, die Löhne sind fast bedenklich schnell gestiegen. Haben jene Recht, die davor warnen, es nicht wieder zu weit zu treiben?

In einer so kleinen Wirtschaft gehe es immer auf und ab, sagt Már Guðmundsson. Die Hauptsache sei, in guten Zeiten für die schlechten vorzusorgen. "Und das haben wir getan." 2008 werde sich nicht wiederholen. Auch sei Islands Finanzsektor heute viel kleiner und konzentriere sich nicht mehr auf riskante internationale Geschäfte wie vor der Krise.

Noch etwas ist anders: Die roten Linien sind deutlich sichtbar. Dafür hat Ólafur Hauksson gesorgt, ein Mann wie ein Schrank, der heute als Staatsanwalt für Schwerverbrechen in Reykjavík zuständig ist. Zuvor war seine Aufgabe, kriminelle Banker vor Gericht zu stellen. Seine Bilanz: Verurteilungen in zwölf Fällen von insgesamt 38 Personen. Vier weitere Fälle sind in der Berufung. Nur in drei hat er keinen Schuldspruch erreicht. Ólafur Hauksson hat Geschäftsführer aus allen großen Pleitebanken hinter Gitter gebracht.

Dabei fühlte er sich zunächst gar nicht zum Sonderermittler berufen, kannte sich nicht aus mit Finanzgeschäften. Ólafur Hauksson hat als Staatsanwalt im Örtchen Akranes kleinere Drogendelikte verfolgt, Belästigungsfälle. Er lebt dort immer noch mit seinen fünf Kindern, auf der anderen Seite der Bucht. Von seinem Büro mit Meerblick kann er den Weg nachzeichnen, den er jeden Tag nach Reykjavík fährt. Erst als 2009 niemand anderer den Posten übernehmen wollte, hat er sich beworben: "Die kleinen Fische zu verfolgen und sich nicht um die größeren Fälle zu kümmern, das schien nicht richtig."

Es wurde viel größer als gedacht. Zeitweise waren ihm mehr als hundert Mitarbeiter unterstellt. Welche Deals waren kriminell, welche nicht? Die meisten Taten lagen in einer Zeit allgemein verbreiteter Gier und Risikoblindheit. Die beiden häufigsten Vergehen waren Marktmanipulation und illegale Vergabe zu riskanter Darlehen. Die Ermittler konnten bis an die Spitze der Banken gehen, sagt Ólafur Hauksson, weil sie Beweise hatten, Mails, Telefongespräche, Zeugenaussagen. "Manchmal war die Frage: Hast du das entschieden?" Oft hätten die Befragten dann auf ihren Vorgesetzten gezeigt.

Manche sagen, die Bankenkrise sei ausgestanden, die politische Krise nicht

Offiziell ist der Job erledigt. Hauksson sagt aber, er könne erst abschließen, wenn über alle Fälle entschieden ist. Mit jedem Urteil werden viele Isländer an ihren persönlichen Absturz erinnert. Sie hätten keine Geduld mehr mit Missetätern, sagt Ólafur Hauksson. "Die Zündschnur ist viel kürzer", die Leute gingen schneller auf die Straße. So wie 2016, als sie ihren Premierminister wegen verheimlichter Offshore-Gelder aus dem Amt jagten.

Manche sagen, die Bankenkrise sei ausgestanden, die Finanzkrise auch, die politische Krise jedoch nicht. Weil ihre Regierungen über Skandale stolperten, haben die Isländer zwei Mal innerhalb eines Jahres vorzeitig gewählt. Nur leider immer dieselben korrupten Leute, sagt Autor Hallgrímur Helgason, der auch protestiert hat, Gedichte schrieb und Reden hielt über die Raffgier politischer Eliten. "Ich habe sieben Jahre dieser Wut gewidmet", sagt er. "Aber wenn nichts dabei rauskommt, widmest du dich irgendwann anderen Dingen."

Wie die Krise die Isländer verändert hat

Für Ásthildur Þórsdóttir ist das nicht so einfach. Sie lebt mit ihrem Mann in Garðabær, einem Vorort von Reykjavík, mit Blick auf den Snæfellsjökull-Gletscher. Im Wohnzimmer sitzen sie zusammen, die Führungsriege des Vereins isländischer Hausbesitzer, verschuldeter Privatleute, mit mehr als 8500 Mitgliedern.

Die meisten isländischen Kredite sind an die Inflationsrate gekoppelt. Wenn die wie 2009 um mehr als 18 Prozent steigt, steigt die Kreditsumme um genauso viel. Dazu kommen die Zinsen. Dieses Konstrukt halte die Leute in "ewiger Verschuldung", sagt Guðmundur Ásgeirsson, der Rechtsexperte des Vereins. Irgendwann gab es eine Alternative: den Fremdwährungskredit. Man lieh sich Schweizer Franken oder Yen und zahlte die Schulden in isländischen Kronen zurück. Einen solchen Kredit haben Ásthildur Þórsdóttir und ihr Mann 2007 aufgenommen, 30 Millionen Kronen (heute 242 000 Euro) für den Hauskauf geliehen, 25 Millionen selbst mitgebracht. Als die Krone abstürzte, waren ihre Schulden plötzlich mehr als doppelt so hoch, die monatlichen Raten unbezahlbar.

Sie wollten das Haus schon aufgeben, da erklärte der Oberste Gerichtshof die Fremdwährungskredite für unrechtmäßig. Ihr Kredit wurde umformuliert, war nicht mehr an den Wechselkurs gekoppelt. Stattdessen sollten sie 18 Prozent Zinsen zahlen, Krisenniveau. "Dafür hätten wir nie 30 Millionen geliehen, das ist verrückt", sagt der Ehemann. Die Bank wollte inzwischen 45 Millionen Kronen von ihnen haben. Sie haben daraufhin gar nichts mehr bezahlt.

Andere, sagt die Frau, wären Deals mit Banken eingegangen, hätten ihre Hausschlüssel abgegeben, um ihre Sorgen loszuwerden. Vielen wurden Schulden erlassen. Der Verein schätzt, dass mehr als 10 000 Isländer und isländische Familien ihre Häuser verloren haben. Letztes Jahr wurde auch das Haus von Ásthildur Þórsdóttir zwangsversteigert. Ein "schreckliches" Gefühl sagt sie. Ausgezogen sind sie nicht, sie zahlen nun Miete. "Wir bleiben dabei: Wir haben einen Anspruch gegen den isländischen Staat für all unsere Verluste", sagt der Mann. Weil der diese Art von Krediten überhaupt erst zugelassen hat.

Die Krise habe die Isländer verändert, sagt Autor Hallgrímur Helgason. Sie hätten ihre Unschuld verloren, ihre Naivität, den großen Optimismus. Nach der Krise hätten sie sich stärker auf sich selbst konzentriert, auf alte Werte, Bücher, Poesie, Musik. Doch die Gier ist noch da. Das Geschäft mit den Touristen ist für Helgason ein Indiz dafür.

Die nächste Enttäuschung wird kommen, da ist sich der Autor sicher. Vielleicht wenn Touristen wegbleiben. Was wird dann aus den vielen neuen Hotels? "In zehn oder 20 Jahren leben wir alle in Hotelzimmern, schauen Auszüge von alten Fußballspielen an und erinnern uns an die guten Zeiten", scherzt er. Vielleicht sind die besten Zeiten gerade jetzt.

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