Wer einer Aussage der Bundeskanzlerin oder einer von ihr unterzeichneten Erklärung auf den Grund gehen will, ohne Gefahr zu laufen, später der Fehldeutung bezichtigt zu werden, wendet sich klugerweise an einen Interpretationsspezialisten - am besten an die Bundeskanzlerin selbst. Und so wurde Angela Merkel dieser Tage gefragt, was denn jener Bandwurmsatz mit 86 Worten auf Seite 94 des Koalitionsvertrags zu bedeuten habe, in dem sich Union und SPD zur Frage äußern, ob marode Banken künftig direkt den Euro-Schutzschirm ESM anzapfen dürfen.
Merkels Antwort fiel überraschend klar aus: Droht ein Land nur deshalb den Zugang zum Kapitalmarkt zu verlieren, weil es eine Bank finanziell stützen muss, kann das Institut künftig direkt Geld aus dem Fonds erhalten.
Klingt vernünftig - solange man den Satz nicht umdreht. Dann nämlich lautet er: Ein Land muss demnächst nur noch lange genug insistieren, zur Hilfe nicht in der Lage zu sein, um sein Bankenproblem auf die Euro-Partner abwälzen zu können. Das entspricht kaum dem, was die bisherige Regierung in Sachen direkte Bankenrekapitalisierung hat verlauten lassen - und es ist das glatte Gegenteil dessen, was die SPD vor der Wahl zum Thema gesagt hat. Aus Sicht der Sozialdemokraten nämlich soll der mit bis zu 500 Milliarden Euro gefüllte ESM ein reiner Schutzschirm für Staaten bleiben. Wenn Merkel "die Staatenrettung in eine Spekulantenrettung verwandeln" wolle, so erklärte etwa Parteichef Sigmar Gabriel schon vor mehr als einem Jahr, sei das mit der SPD nicht zu machen.
Auch viele Unionspolitiker wollen in Wahrheit nicht, dass marode Banken direkten Zugriff auf den Rettungsfonds erhalten. Das Problem ist jedoch: Merkel hat in Gesprächen mit ihren europäischen Amtskollegen dem neuen "Instrument" längst zugestimmt. Seither mühen sich die Unterhändler der Bundesregierung darum, zumindest eine Obergrenze von beispielsweise 60 Milliarden Euro für die direkte Bankenrekapitalisierung einzuziehen und die Bedeutung des Themas in Hintergrundgesprächen kleinzureden. "In der Praxis", so heißt es dann, "wird es dazu nie kommen."
Das Dumme ist nur: Unter den 17 Euro-Staaten sehen das die allermeisten ganz anders. Sie halten die bisherige Regelung, wonach Bankenhilfen nur vom betroffenen Staat, nicht aber von den Instituten beantragt werden dürfen, für kontraproduktiv, weil es ja gerade eine Lehre der Krise sei, dass der Kreislauf aus Bank- und Staatsverschuldung durchbrochen werden müsse. Die irische Regierung will gar erreichen, dass ein Teil ihrer längst gezahlten Bankhilfe nachträglich als Direkthilfe deklariert wird. Damit würde die Staatsschuld über Nacht drastisch sinken. Andere Länder hoffen, dass der ESM einspringt, sollten sich bei dem für 2014 geplanten Stresstest für Europas Großbanken Kapitallücken auftun. Über die Folgen spricht kaum jemand: Erstmals nämlich wäre der Fonds, also die Gemeinschaft der Euro-Steuerzahler, nicht mehr nur Gläubiger von Staaten, sondern auch Aktionär privater Banken. Im Pleitefall verlöre er als Erster sein Geld.
Die Neu-Koalitionäre in Berlin halten dagegen, dass eine direkte Bankenrekapitalisierung nur nach einer Kostenbeteiligung aller bisherigen Aktionäre, Gläubiger und Einleger als "ultima ratio" in Betracht komme. Wichtige Regierungen wie die französische und die spanische sind jedoch derzeit hinter den Kulissen eifrig dabei, genau diese sogenannten Bail-in-Regeln kräftig zu durchlöchern. Sie werden sich über die klaren Worte der Bundeskanzlerin gefreut haben.