Dass durch die hügeligen Wälder zwischen Annaberg-Buchholz und Wolkenstein bald ein Hightech-Zug fährt, ahnt selbst im Erzgebirge bislang kaum jemand. Der rote Triebwagen der Baureihe VT 642 sieht allerdings auch eher nach Pendlerschreck aus als nach Vision. Trotzdem ist von ihm und seiner sächsischen Provinztrasse unter Konzernstrategen in der gläsernen Zentrale der Deutschen Bahn in Berlin derzeit ziemlich oft die Rede, wenn es um die Zukunft des Unternehmens Bahn geht. Von allen anderen Zügen in Deutschland, selbst den modernsten ICEs, unterscheidet ihn ein bemerkenswertes Detail: Er könnte am Ende der Tests als Erster Passagiere automatisch befördern - ganz ohne Lokführer.
Beschleunigt von einer Maschine, gesteuert von Algorithmen, gebremst von Sensoren und Computerchips: Die Deutsche Bahn baut gerade auf einem rund 25 Kilometer langen Streckenabschnitt bei Chemnitz ein Testfeld auf. Die DB-Tochter Regio hat in ihrer Chemnitzer Werkstatt dafür den unauffälligen Kurzzug mit Kameras und Sensortechnik hochgerüstet. Das System soll etwa Hindernisse erkennen und den Zug bei Problemen rechtzeitig stoppen. Spätestens im Herbst soll der Zug erst einmal teilautomatisch losfahren. Nur die Genehmigung des Eisenbahnbundesamtes fehlt noch. ATO - Automatic Train Operation - heißen die Systeme, die als künftiges Gehirn eines Zuges gelten. Der Konzern hat keine Zweifel mehr daran, dass die künstliche Intelligenz in einigen Jahren im größeren Stil Züge steuern wird. Die zunehmende Automatisierung sei nicht mehr aufzuhalten, sagt ein Sprecher. Spätestens 2023 werde die Deutsche Bahn so weit sein, Teile des Netzes vollautomatisch zu fahren, heißt es aus der Führung des Konzerns.
Die Hoffnungen der Bahnbranche sind groß. Überall in Europa liegen Pläne für fahrerlose Züge in der Schublade. Mit der französische Staatsbahn SNCF haben die Deutschen bereits eine gemeinsame Digitalisierungsstrategie vereinbart. Sie sieht vor, dass Deutsche und Franzosen gemeinsam den fahrerlosen Zug entwickeln. "Es geht darum, dass wir uns austauschen und Erfahrungen teilen. Dass wir gemeinsam Standards setzen", sagte Guillaume Pepy, Chef des französischen Bahnkonzerns SNCF. Und auch die Schweizer SBB kündigte gerade an, dass sie die Möglichkeiten "ferngesteuerter Züge" prüfe.
Wer wissen will, was technisch heute schon machbar ist, muss noch unter die Erde gehen: In 16 europäischen Städten von Kopenhagen bis Turin fahren U-Bahnen oder Flughafen-Züge komplett automatisiert. In London wird die U-Bahn in den nächsten Jahren umgestellt. Und auch in Deutschland gibt es erste Beispiele: Seit sieben Jahren verkehren in Nürnberg zwei U-Bahn-Linien fahrerlos. Der positive Effekt aus Sicht der Betreiber: Die Züge sind nach Angaben der Stadt fast zu 100 Prozent pünktlich, verbrauchen wegen optimierten Fahrstils weniger Energie. Und: fahrerlose Züge können in deutlich kürzerem Takt fahren. Der Mensch traut der Technik kürzere Sicherheitsabstände zu. Das alles soll dafür sorgen, dass sich die 600 Millionen Euro Investitionen in die weitgehend menschenfreie Fahrtechnik irgendwann auszahlen.
Konzerne wie die Bahn gehen davon aus, dass sich die teure Technik auch überirdisch rechnen kann. Wenigstens auf einem Teil der Strecken. Ein dichterer Takt könnte etwa auf den chronisch überlasteten europäischen Ferntrassen Abhilfe schaffen. Schließlich läuft heute bereits vieles in den Cockpits der Bahnen automatisch. "Lokführer haben kaum noch Entscheidungsspielraum", sagt Jürgen Siegmann, Professor für das Fachgebiet Schienenfahrwege und Bahnbetrieb an der Technischen Universität Berlin. Sie müssten vor allem ein System überwachen, das vieles schon automatisch meistert. Doch der letzte Schritt gilt als der schwierigste. Kann der Computer an Bord wirklich jede Entscheidung des Menschen übernehmen?
Forscher wissen: Die technischen Herausforderungen sind gewaltig. U-Bahnen gelten für Ingenieure als vergleichsweise einfache Teststrecken. An die oberirdische Revolution traute sich bislang niemand so recht heran. Tunnel unter dem Nürnberger Hauptbahnhof oder die Metro unter der Kopenhagener Altstadt sind abgeschlossene Räume und weit weg von all den Gefahren, die auf ICE-Trassen bei Höchstgeschwindigkeiten lauern: Tiere, Menschen oder Gegenstände auf den Gleisen, Unwetter und umgestürzte Bäume. Auch im internationalen Vergleich gilt der Einsatz von fahrerlosen Zügen in Deutschland als besonders kompliziert. Denn anders als in Frankreich oder Japan verfügt Deutschland über ein Schienennetz mit Mischbetrieb: ICEs, Güterzüge und Regionalbahnen sind oft auf denselben Trassen unterwegs. Der gleichzeitige Einsatz von Zügen mit und ohne Lokführer wäre jedoch technisch eine gewaltige Herausforderung. Fachleuten zufolge könnten Computer als Erstes dort übernehmen, wo nur eine Zugart verkehrt. Zu denen gehören Hochgeschwindigkeitstrassen der ICE-Züge zwischen Frankfurt und Köln etwa oder auf der Neubautrasse München - Berlin.