Eurozone:Im Billionenbereich

Im Zahlungssystem Target 2 sitzt die Bundesbank auf Forderungen von fast tausend Milliarden Euro. Ökonomen warnen: Deutsche Steuerzahler haften, wenn der Euro scheitert. Andere sagen: Panikmache! Beide haben recht.

Von Markus Zydra

EZB vor Frankfurter Bankenskyline

Hier wird die Geldpolitik gemacht: die Zentrale der Europäischen Zentralbank in Frankfurt am Main.

(Foto: Boris Roessler/dpa)

Es passiert selten, dass Mario Draghi die verbale Contenance sausen lässt, um seine Gegner frontal anzugehen. Doch die scharfe deutsche Kritik am europäischen Zahlungssystem Target-2 regt den EZB-Präsident auf. Für Draghi handelt es sich hier um das Rückgrat der Währungsunion, weil es Unternehmen, Privatleuten und Banken erlaubt, ihre internationalen Geschäfte zu bezahlen. Für einige deutsche Wirtschaftswissenschaftler ist Target-2 jedoch ein trojanisches Pferd, das Deutschland die Schulden anderer Euro-Staaten aufhalse. Draghi hält den Vorwurf für europafeindlich. "Die Wahrheit ist, dass diese Leute den Euro nicht mögen, denn eine Währungsunion kann nur funktionieren, wenn sie ein effizientes Zahlungssystem hat."

Die Target- 2-Salden: Kaum zu glauben, dass dieses prädestinierte Orchideenfach eine öffentliche Debatte ausgelöst hat. Den Impuls gab der frühere Bundesbankpräsident Helmut Schlesinger. Ihm war zum Höhepunkt der Finanzkrise 2011 aufgefallen, dass die Bundesbank in ihrer Bilanz urplötzlich Forderungen in Höhe von 300 Milliarden Euro aufgebaut hatte. Schlesinger, dessen Unterschrift einst D-Mark-Geldscheine zierte, machte den Ökonomen Hans-Werner Sinn auf dieses Rätsel aufmerksam. Der damalige Chef des Münchner Ifo-Instituts begann zu recherchieren und veröffentlichte am 21. Februar 2011 in der "Wirtschaftswoche" unter dem Titel "Neue Abgründe" den ersten Text, der die Risiken der Target-Salden beschrieb. Es entspann sich daraus eine akademische Auseinandersetzung, deren Schärfe bis zum heutigen Tag anhält.

Der Target-Saldo der Bundesbank ist in den vergangenen beiden Jahren stetig gestiegen, mittlerweile auf einen neuen Rekordstand von über 900 Milliarden Euro. Der Zuwachs hat den Streit um die Deutungshoheit neu entfacht. Worum geht es?

Mit der Einführung des Euro im Jahr 1999 haben die Zentralbanken der Währungsunion ihre Zahlungssysteme vernetzt. Der europäische Bankensektor bekam so eine zentrale Standleitung für Überweisungen, denn jede Geschäftsbank unterhält ein Konto bei ihrer nationalen Zentralbank. Das Zahlungssystem heißt Target (Trans-European Automated Real-time Gross Settlement Express Transfer System). Die modernere Version Target- 2 ging 2008 in Betrieb. Waren, Dienstleistungen und Kapitalmarktgeschäfte können schnell und sicher beglichen werden. Target-2 bildet wirtschaftliche Zahlungsströme der 19 Euro-Staaten ab.

Weil Target-Zahlungen über die 19 Notenbanken der Währungsunion abgewickelt werden, entsteht - mit der EZB im Zentrum - ein Saldo aus Forderungen und Verbindlichkeiten. Das geschieht zum Beispiel so: Eine italienische Firma kauft für eine Million Euro eine Maschine in Deutschland. Sie weist ihre Hausbank in Rom an, den Betrag an die deutsche Bank des Verkäufers zu überweisen. Am Ende hat der Verkäufer eine Million Euro mehr auf seinem Konto, der italienische Käufer eine Million Euro weniger. Doch weil die Abbuchung und Gutschrift über die italienische Zentralbank Banca d'Italia, die EZB und die Bundesbank läuft, entstehen spiegelbildliche Salden: Die Bundesbank erhält eine Forderung von einer Million Euro gegenüber der EZB, während die Banca d'Italia die gleiche Summe als Verbindlichkeit der EZB schuldet.

Die Target- Salden haben sich zwischen 1999 und 2007 automatisch ausgeglichen. Deutsche Banken gaben den Geldüberhang sofort an südeuropäische Banken weiter, die dann Importkredite der eigenen Wirtschaft finanzieren konnten.

Im Kern geht es um die Frage, wie stark man an den Fortbestand der Währungsunion glaubt

So funktioniert eine Währungsunion im besten Fall: Das Geld fließt dorthin, wo es gebraucht wird, und die privaten Geschäftsbanken tragen das Risiko. Die Lehman-Pleite 2008 unterbrach diesen Kreislauf. Die Geschäftsbanken verliehen sich kein Geld mehr, sie horteten es. Die Osmose der Finanzsysteme war unterbrochen. Die EZB sprang damals ein und gab den südeuropäischen Banken, die keiner mehr finanzieren wollte, das fehlende Geld, was der Norden aus Angst hortete. Im europäischen Finanzsystem entstand so ein Überschuss an Geldmitteln, der bis heute anhält. Diese lockere Geldpolitik hielt den Kreislauf am Leben. Griechische Banken konnten ihren Kunden weiter Importe finanzieren. Nur das Risiko trugen am Ende nicht mehr die Privatbanken, sondern die Zentralbanken.

Seinen Ausdruck findet das in den Target-Forderungen der Bundesbank, die nicht nur nach Exportgeschäften, sondern auch bei Kapitalflucht ansteigen, etwa wenn ein Sparer aus der Eurozone sein Geld auf ein deutsches Konto transferiert. Das ist zum Höhepunkt der Euro-Schuldenkrise 2011 geschehen: Griechen, Italiener, Portugiesen und Spanier haben ihr Erspartes in Deutschland gebunkert. Die Target-Forderungen der Bundesbank stiegen erstmals enorm an, und das völlig unbemerkt, bis Ökonom Sinn es zur Sprache brachte. Die damalige Kapitalflucht war ein Misstrauensvotum gegen die Eurozone, deren Fortbestand ernsthaft gefährdet war. Erst die Londoner Rede von Draghi 2012 ("Whatever it takes") stoppte das Ausbluten. Die Target-Salden gingen zurück.

Der erneute Anstieg begann mit dem Anleihekaufprogramm der EZB ab 2015. Die Target-Forderungen der Bundesbank klettern jetzt aber aus einem anderen - eher technischen - Grund. Ein Beispiel: Im Rahmen des EZB-Kaufprogramms erwirbt die italienische Zentralbank sehr häufig italienische Staatsanleihen von britischen und amerikanischen Banken in London. Die haben ihr Euro-Konto meist bei ihrer Tochtergesellschaft in Frankfurt. Dort wird das Geschäft dann auch abgewickelt. Die Anleihe geht nach Rom, das Geld fließt nach Frankfurt, der Target-Saldo der Bundesbank steigt. Der Grund ist dieses Mal also nicht eine gefährliche Kapitalflucht aus Südeuropa, sondern dass Frankfurt ein internationales Finanzzentrum ist.

Aktuell hat die Bundesbank bei der EZB fast eine Billion Euro gut. Das entspricht einem Drittel des deutschen Bruttoinlandprodukts. Die EZB ihrerseits hat Forderungen in gleicher Höhe gegen andere Notenbanken des Eurosystems, vor allem gegen die italienische und spanische Notenbank (siehe Grafik). Sinn klagt, die Bundesbank gebe anderen Notenbanken einen billigen Überziehungskredit. Der Ökonom Martin Hellwig sagt, es handele sich bei Target-Forderungen nicht um Kredite, sondern um technische Gegenbuchungen.

Im Kern geht es um die Frage, wie stark man an den Fortbestand der Währungsunion glaubt. Fest steht: Bricht sie auseinander, dann muss die Bundesbank bangen, ob sie ihre Forderungen eintreiben kann. Bleibt der Euro bestehen, ist alles gut.

Draghi und die Bundesbank gehen natürlich davon aus, dass der Euro bleibt. Sollte ein Land jedoch austreten, so schrieb der EZB-Präsident in einer Antwort an das Europäische Parlament, müsse es seine Schulden bei der EZB vollständig begleichen. Punkt. Die italienische Notenbank hat eine Target-Verbindlichkeit von 480 Milliarden Euro. Was passiert, wenn das Geld zur Rückzahlung fehlt, weil Italien bankrott ist? Es gäbe Umschuldungsverhandlungen. Die Verteilung von Gewinnen und Verlusten im Eurosystem folgt dem festgelegten Kapitalschlüssel. Die Bundesbank trüge rund 30 Prozent des Schadens.

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