Einzelhandel:Lächeln lohnt sich

Lesezeit: 4 min

Stressig und schlecht bezahlt - so beschreibt die Gewerkschaft Verdi den Job an der Supermarktkasse. (Foto: Imago)

Wie viel ist die Arbeit einer Kassiererin im Supermarkt wert? Sollte sie mehr verdienen, als ihre Kollegin in einer Mode-Boutique? Gewerkschaften und Unternehmen suchen nach einer Antwort.

Von Michael Kläsgen, München

Die Gewerkschaft Verdi will in den Tarifverhandlungen im Einzelhandel durchsetzen, dass erstmals "soziale Kriterien" bei der Entlohnung von Kassiererinnen und Verkäuferinnen geltend gemacht werden. Alle, die in direktem Kundenkontakt stehen, sollen in der Lohn- und Gehaltstabelle entweder aufrücken oder in ihrer Tarifgruppe besser bezahlt werden. Das sehen die Planungen für die neue Tarifrunde vor, die im Mai neu aufgenommen werden. Betroffen wären mehr als zwei Millionen Beschäftigte im Einzelhandel. Gegenwärtig arbeiten nach Gewerkschaftsangaben 3,4 Millionen Beschäftigte in der Branche, wobei 70 Prozent analog der Tarifgruppe für Verkäuferinnen und Kassiererinnen entlohnt werden. Zu sozialen Kriterien zählt Verdi Beratungs- und Servicedienstleistungen von Beschäftigten mit direktem Kundenkontakt.

Der oberste Vertreter der Unternehmensseite, Stefan Genth, Hauptgeschäftsführer des Einzelhandelsverbandes HDE, hält es für schwierig, erstens soziale Kriterien zu definieren und zweitens deren Bedeutung für die jeweilige Tätigkeit festzulegen. Er fügt aber hinzu: "Jeder, der mal an der Supermarktkasse saß, weiß, wie schnell man da ins Schwitzen kommt." Das Mitgefühl der Industrievertreter hat die Kassiererin also, aber wie steht es mit der Bezahlung? Verdient die Supermarktkassiererin eine Art Stresszulage, die weniger gestresste Verkäuferin in der Mode-Boutique aber nicht?

Warum soll eine Mitarbeiterin freundlich sein, wenn es ihr dreckig geht?

Überhaupt: Was sind "soziale Kriterien"? Für Verdi gehört das Lächeln der Kassiererin dazu, viele Unternehmer fragen sich aber: Warum soll ich für das Lächeln zahlen? Freundlichkeit zähle doch zur Jobbeschreibung dazu. Verdi hält dagegen: Warum soll die Kassiererin lächeln, wenn es ihr dreckig geht? Und dreckig gehe es ihr, so wie nach Verdi-Ansicht vielen im Einzelhandel. "Der Einzelhandel gehört zu den Branchen mit dem größten Armutsrisiko für die Beschäftigten und mit überproportional vielen Aufstockern", sagt Orhan Akman, Verdis Tarifkoordinator Einzelhandel. "Aufstocker" beziehen zusätzlich zu ihrem Lohn noch Leistungen von der Bundesagentur für Arbeit. Um die Behauptung vom Armutsrisiko zu belegen, gibt Verdi folgendes Beispiel: Eine gelernte, in Vollzeit beschäftigte Verkäuferin erhalte beim gegenwärtigen Rentenniveau (47,9 Prozent des Monatsbruttolohns von 1500 Euro) nach 40 Beitragsjahren eine Rente nach Abzug der Sozialabgaben von 541 Euro.

Genth erzürnt der Vorwurf, seine Branche erzeuge Altersarmut. Zwar sei es grundsätzlich zutreffend, dass die Arbeitsagentur 2014 insgesamt 1,5 Milliarden Euro für Mitarbeiter im Einzelhandel als Lohnaufstockung gezahlt hat. Das liege aber nicht an angeblich zu geringen Löhnen, sondern daran, dass überdurchschnittlich viele Beschäftigte im Einzelhandel Teilzeit arbeiteten. Mitte 2016 seien das 63 Prozent gewesen, meist Frauen. Die Aufstockungsleistungen richteten sich zudem an Bedarfsgemeinschaften, etwa Familien. Berücksichtige man jedoch Bedarfsgemeinschaften, in denen eine Person Vollzeit im Einzelhandel arbeite, sei die Aufstockerquote geringer als in der Gesamtwirtschaft.

So steht Aussage gegen Aussage; das Klima scheint vergiftet zu sein, ehe die neue Verhandlungsrunde begonnen hat. Streng genommen basteln Verdi und HDE schon seit mehr als zehn Jahren erfolglos an einer neuen Entgeltstruktur im Einzelhandel. Dabei sind sich beide einig, dass der alte Tarifvertrag überholt ist. Die Unternehmerseite führt gern die "Kaltmamsell" und den "Fahrstuhlführer" an, also längst überholte Berufsbilder, um die alten Spielregeln ins Lächerliche zu ziehen. Natürlich geht es ihr um Kostenreduktion. Die Gewerkschaft ist an dem großen, für alle Einzelhändler geltenden Wurf ins digitale Zeitalter interessiert. Denn nach und nach haben sich große Ketten wie Esprit, Globus, Obi oder Peek & Cloppenburg aus der Tarifbindung verabschiedet - für Verdi ein Alarmzeichen. Jetzt zerrt wieder ein Unternehmen an der Tarifbindung: Galeria Kaufhof will einen kostengünstigeren Haustarifvertrag, so wie der Rivale Karstadt.

Nicht mal mehr ein Drittel der Beschäftigten sind in der Tarifbindung. Verdi will der steten Erosion mit einem allgemeinverbindlichen Tarifvertrag entgegenwirken, unter dessen Dach sich auch Tarifverweigerer wie der US-Versandhändler Amazon wiederfinden können. Um das hinzubekommen, will die Gewerkschaft die Tätigkeiten für jedes einzelne Berufsbild im Einzelhandel im digitalen Zeitalter allgemeingültig festschreiben, damit diese dann entsprechend entlohnt werden können - unter anderem auch die Service- und Beratungsdienste derjenigen, die im ständigen Kundenkontakt stehen wie die Verkäuferinnen. Ein Vorhaben, das Skeptiker für aussichtslos halten, allein schon, weil niemand weiß, wie bestimmte Berufsbilder in zehn Jahren aussehen werden.

Ausgerechnet der ungeliebte Newcomer Amazon lässt sich den Kundenkontakt etwas kosten

Dass dem Kontakt mit dem Kunden besonderer Wert beigemessen werden muss, bejaht bemerkenswerterweise aber auch Amazon. Der Versandhändler praktiziert das längst. All jene, die Pakete an Prime-Now-Kunden in Deutschland ausliefern und bei Amazon beschäftigt sind, stellt der sonst so kostenbewusste Konzern unbefristet fest an. Zudem bezahlt er sie pro Stunde und nicht pro Lieferung. Das Kalkül: Die Jobzufriedenheit des Fahrers spiegelt sich direkt im Kontakt mit den Kunden wider, und der soll ja wieder bei Amazon bestellen. Zudem muss der Fahrer besonders wichtige Informationen an das Unternehmen weitergeben, damit der schnelle Lieferservice überhaupt funktioniert: Wo genau befindet sich die Adresse? In Berlin etwa im fünften Hinterhaus? Ist es eine Privat- oder Geschäftsadresse? Die "letzte Meile", wie Amazon die Auslieferung an den Kunden nennt, ist für den Erfolg ganz entscheidend.

Ausgerechnet der ungeliebte Newcomer Amazon, der viele etablierte Einzelhändlern das Fürchten lehrt und allerorten Kostendruck verursacht, lässt sich den direkten Kundenkontakt etwas kosten, schließlich geht es um die Zufriedenheit seiner Klientel, eine fast schon doktrinäre Obsession des Konzerns. Da liegt es nahe zu hinterfragen, ob ein ähnlicher Stellenwert nicht auch dem von Verdi angeführten Lächeln der Verkäuferin beigemessen werden müsste, wenn es dazu führt, dass der Kunde sich wohlfühlt und wiederkommt. Noch scheint sich diese Ansicht nicht bei vielen Einzelhändlern durchgesetzt zu haben. Aber wer weiß, vielleicht ist das von Verdi seit Jahren bestreikte Amazon auch einmal in sozialer Hinsicht ein Unternehmen, das Maßstäbe setzt.

© SZ vom 24.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: