Es ist durchaus möglich, dass Dorian Satoshi Nakamoto das Drama "Biedermann und die Brandstifter" von Max Frisch gelesen hat. Der Brandstifter Willi Eisenring sagt darin zum gutgläubigen Gottlieb Biedermann: "Die beste und sicherste Tarnung ist immer noch die blanke und nackte Wahrheit. Komischerweise. Die glaubt niemand." Auf Nakamoto übertragen: Wenn du willst, dass niemand glaubt, dass du der mythische, bisher phantomartige Erfinder der Kryptowährung Bitcoin bist, dann verwende als Pseudonym ganz einfach deinen echten Namen.
Dass der Gründer der digitalen Währung als etwas verschrobener Durchschnittsbürger in Los Angeles lebt, suggeriert jedenfalls ein Bericht der Zeitschrift Newsweek, der am Donnerstag erschienen ist. Jetzt ist der Wirbel immens.
Die Autorin legt keine Beweise vor, die Nakamoto tatsächlich zweifelsfrei als den identifizieren, der vor Jahren erstmals die digitale Währung programmiert hat, die durch komplexe Berechnungen von Computern und ohne Kontrolle einer Zentralbank entsteht. Über dessen Identität das Internet seit beinahe fünf Jahren spekuliert. Und von dem es heißt, er würde mittlerweile Bitcoins im Wert von etwa 400 Millionen US-Dollar besitzen. Es gibt lediglich Indizien, dennoch heißt es gleich zu Beginn, dass der Bitcoin-Erfinder ein 64 Jahre alter Mann sei, der im kalifornischen Temple City wohnt.
Es gab in der Vergangenheit viele Spekulationen über die Identität des Bitcoin-Gründers. Neben Theorien, dass es sich dabei um ein Verbrecherkartell oder den amerikanischen Nachrichtendienst NSA handeln könnte, wurden immer wieder auch Namen veröffentlicht: der finnische Soziologe Vili Ledornvirta, der irische Student Michael Clear, der japanische Mathematiker Shinichi Mochizuki. Auch John McCaleb, Gründer der kürzlich gehackten und mittlerweile insolventen Bitcoin-Tauschbörse Mt Gox, wurde bereits genannt. Diesen Texten wurde viel Aufmerksamkeit zuteil - genau das kann Newsweek gerade gut gebrauchen. Die Print-Ausgabe am Donnerstag war die erste seit dem Eigentümerwechsel vor 15 Monaten.
Temple City ist eine Kleinstadt im Nordosten von Los Angeles, man tut ihr sicherlich nicht Unrecht, wenn man behauptet, dass sich hier Füchse und Hasen eine wohlige Nachtruhe wünschen. An diesem Vormittag begrüßten sich jedoch nicht Fuchs und Hase, sondern etwa ein Dutzend Journalisten vor einem Haus, das nicht unbedingt aussieht wie das eines mehrfachen Millionärs. Es ist vielmehr ein Haus, das auch Gottlieb Biedermann gehören könnte: zwei Stockwerke, Flachdach, Garage, Vorgarten.
Die Reporter, bis Mittag sind es knapp 20, wollen mit Nakamoto sprechen, der lässt sich jedoch zunächst nicht blicken - und will dann erst einmal essen gehen. Als er herauskommt, trägt er blaue Stoffhose, mintgrünes Hemd und graues Sakko. "Ich bin nicht an Bitcoin beteiligt", sagt er: "Ich will nur ein Gratis-Mittagessen." Dann steigt er in den Prius eines Mitarbeiters der Nachrichtenagentur Associated Press (AP). Der hat ihm angeboten, ihn zum Essen einzuladen.
Von diesem Moment an scheint sicher zu sein: Das ist er! Der Gründer von Bitcoin! Warum sonst sollte er nun mit einem Journalisten sprechen wollen? Ansonsten hätte er doch nur knapp dementiert, wäre zurück in sein Haus gegangen und hätte die Polizei gebeten, die Reporter zum Abzug zu bewegen.
Es folgt eine skurrile Autofahrt durch Los Angeles, zunächst geht es in ein Sushi-Restaurant im benachbarten Ort Arcadia, danach zum Büro von AP in Downtown L.A. Eine Reporterin der Los Angeles Times fragt ihn im Aufzug erneut nach Bitcoin. "Ich war nie daran beteiligt", sagt er der Journalistin. Er sei nur wegen des Mittagessens mitgekommen. Nakamoto verschwindet in den Räumen von AP im dritten Stockwerk, die Reporter warten gelangweilt im Gang. Sie sitzen auf dem Fußboden, telefonieren mit Kollegen. Irgendwann interviewen sie sich gegenseitig. Wirklich: Da erzählt ein Journalist ohne Videokamera einem Journalisten mit Videokamera, wie spannend diese Jagd auf Nakamoto bislang gewesen sei.
Irgendwann spricht einer aus, was viele hier seit Stunden denken: "Was ist, wenn dieser Typ überhaupt nicht der Bitcoin-Gründer ist? Wenn die Geschichte in Newsweek ganz einfach nicht stimmt?"
In dem Artikel wird lediglich eine - durchaus nachvollziehbare - Indizienkette präsentiert: Nakamoto sei ein brillanter, in Japan geborener Mathematiker, mit einem Abschluss in Physik von der California State Polytechnic University. Er habe für die amerikanische Bundesluftfahrtbehörde gearbeitet und als Freiberufler auch Aufträge des Militärs übernommen. Er habe als Libertarier eine Abneigung gegen Banken und Regierungen, auch Übereinstimmungen im Sprachstil und die Art des Programmiercodes würden auf Nakamoto als Bitcoin-Gründer deuten.
Zudem weist sein Lebenslauf laut Newsweek Parallelen mit dem Zeitrahmen der Bitcoin-Programmierung auf. "Satoshi sagte, dass er jahrelang an Bitcoin gearbeitet hat, bevor er es veröffentlicht hat", wird etwa Programmierer Gavin Andersen zitiert, der als Entwickler von Bitcoin regelmäßig per Mail - und nur per Mail - mit dem Gründer kommuniziert hat: "Ich konnte erkennen, dass der Originalcode mindestens zwei Jahre in Anspruch genommen hat." Nakamotos Vertrag mit der Luftfahrtbehörde endete im Jahr 2001, danach sei er nach Temple City zurückgezogen und habe keine feste Anstellung mehr gehabt. Sieben Jahre später tauchte im Internet das erste Bitcoin-Exposé auf.
In dem Artikel kommen Verwandte zu Wort, sein Bruder Arthur etwa bezeichnet ihn als "brillant" und "intelligent", aber auch als "Arschloch". Seine Frau Grace Mitchell, von der er seit 14 Jahren getrennt lebt, gibt an, dass er sich beim Kauf von Ersatzteilen für Modelleisenbahnen stets über Wechselkurse echauffiert habe: "Darüber hat er sich immer beschwert." Am Ende ihrer Recherchen besucht die Newsweek-Reporterin Nakamoto in Temple City, er verweigert ein Gespräch und sagt nur: "Ich bin nicht mehr darin involviert und ich kann nicht darüber reden."
Das klingt wie ein Geständnis.
Nur: Das war es möglicherweise nicht.
Während sich die Journalisten am Donnerstag auf dem Flur langweilen, gibt Nakamoto den AP-Mitarbeitern ein Exklusiv-Interview. Er bestätigt zwar den im Artikel beschriebenen Lebenslauf, erklärt jedoch wiederholt: "Ich habe nichts damit zu tun." Er habe überhaupt erst von Bitcoin (das er im Interview immer wieder "Bitcom" nennt) erfahren, als die Newsweek-Journalistin vor drei Wochen bei seinem Sohn angerufen habe. Bei seinem vermeintlichen Geständnis sei er missverstanden worden: "Es klingt so, als hätte ich einst mit Bitcoin zu tun gehabt und nun nicht mehr. Das habe ich nicht gemeint, das will ich klarstellen." Er habe vielmehr ausdrücken wollen, dass er kein Ingenieur mehr sei und auch nicht darüber sprechen dürfe: "Wenn wir eingestellt werden, müssen wir ein Dokument unterzeichnen - einen Vertrag, der besagt, dass wir nichts veröffentlichen, was wir während oder nach der Anstellung herausfinden."
Die Anhänger die Kryptowährung reagieren derweil wütend auf den Newsweek-Artikel, der Furor über Autorin Leah McGrath Goodman entlädt sich in zahlreichen Internet-Foren.Die Kritiker beschweren sich über die zahlreichen Details aus Nakamotos Privatleben und darüber, dass ein Foto seines Hauses veröffentlicht wurde. Goodman bleibt bei ihrer Darstellung: "Es gab keinerlei Verwirrung über den Zusammenhang unserer Unterhaltung - und die Bestätigung seiner Beteiligung an Bitcoin."
Um 15:30 Uhr verlässt Nakamoto das AP-Gebäude, die Journalisten bekommen ihn nicht mehr zu sehen. Er lässt sich nach Hause fahren. Die Polizei verhindert, dass er weiter belästigt wird.
Kurz darauf eine neue Spur im Internet. Nach beinahe vier Jahren ohne Aktivität meldet sich ein anderer mutmaßlicher Bitcoin-Gründer auf der Plattform P2P Foundation, auf der sich Programmierer austauschen. Sein knapper Eintrag: "Ich bin nicht Dorian Nakamoto." Der Gründer der Plattform, Josef Davies-Coates, bestätigt dem Magazin TechCrunch, dass für den Beitrag auf P2P Foundation die gleiche E-Mail-Adresse verwendet worden ist wie bei früheren Einträgen - die immer als Spuren zum tatsächlichen Bitcoin-Erfinder galten.
Dorian Satoshi Nakamoto behauptet, nicht der Gründer von Bitcoin zu sein. Der Gründer von Bitcoin behauptet, nicht Dorian Satoshi Nakamoto zu sein. Alles geklärt eigentlich - es sei denn, Nakamoto ist noch viel cleverer als Willi Eisenring in "Biedermann und die Brandstifter".