Deutsche Einheit:Neue Länder statt alte Heimat

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Der Bericht zum Stand der deutschen Einheit attestiert dem Osten große Fortschritte. Und zugleich wachsende Probleme.

Von Julia Bergmann, Berlin

Marco Wanderwitz hatte neulich Klassentreffen. Irgendwo im Landkreis Zwickau, im tiefsten Osten Deutschlands. "Die Leute, die in der Heimat geblieben sind, konnte ich da an einer Hand abzählen", sagte der Ostbeauftragte der Bundesregierung am Mittwoch bei der Vorstellung des Berichts zum Stand der deutschen Einheit. Fast sein ganzer Jahrgang war Mitte der Neunzigerjahre in den Westen gegangen. Dahin, wo sie Perspektiven sahen. Heute sei das anders. Der Osten - eine Region voller Möglichkeiten, wenn man Wanderwitz so zuhört. "Heute gibt es keine ganzen Abiturjahrgänge mehr, die in den Westen gehen." Die Arbeitslosenzahlen sinken, die Wirtschaftskraft steigt. 30 Jahre deutsche Einheit. Eine Erfolgsgeschichte? Als Wanderwitz zu sprechen beginnt, klingt das erst einmal so.

Aber es dauert nicht lange, bis er einräumt: "Es gibt immer noch zu tun." Davor gibt es vor allem eines: viel Lob. Immerhin erreichte die durchschnittliche Wirtschaftskraft der neuen Länder im vergangenen Jahr rund 73 Prozent - mit Berlin sogar 79 Prozent - des gesamtdeutschen Durchschnitts. Die Ausgangslage 1990: 37 Prozent. Die verfügbaren Haushaltseinkommen in Brandenburg und Sachsen übersteigen mit etwas über 20 000 Euro pro Jahr bereits knapp die des einkommensschwächsten alten Bundeslandes, dem Saarland. Und in den vergangenen 30 Jahren habe auch der Westen vom Osten lernen können. Etwa, wenn es um den Ausbau der Kinderbetreuung gehe. Wenn man will, kann man das alles als Erfolg werten. Auch wenn es lange gedauert hat.

"Deutschland ist sich in vielen Dingen ähnlicher geworden seit 1990", sagt Wanderwitz. Und trotzdem gehört auch das zur deutschen Realität: die neuen Länder sind deutlich ländlicher geprägt als die alten, sie haben eine geringere Siedlungsdichte, große Ballungsräume fehlen und mit ihnen große Konzernzentralen. Aber gerade die sind es, die gerne investieren, die private Forschung und Entwicklung vorantreiben. Es brauche also weiter Wirtschaftsförderung im Osten, mehr Wachstum, mehr Konzentration auf Zukunftstechnologien. Oder wie Wanderwitz sagt: "So viele Teslas wie möglich, auch im Kleinen." Aber es braucht vor allem Zuwanderung. Dabei setzt Wanderwitz auch auf den Brexit.

"In jeder Herausforderung liegt auch eine Chance", sagt er und lenkt den Blick auf osteuropäische Fachkräfte in Großbritannien. "Wenn sie dort nicht mehr arbeiten können oder wollen, ist das eine Chance, zu sagen, bevor ihr an die Masurische Seenplatte zurückgeht, bleibt doch bitte in Brandenburg oder Sachsen." Neue Länder statt alte Heimat. "Aber dafür müssen sie attraktiv sein." Und dafür wiederum brauche es Weltoffenheit und Willkommenskultur.

Nur wie soll das funktionieren, im Osten Deutschlands, wo rechtsextreme Orientierungen immer populärer werden und man Fremdem gegenüber wenig aufgeschlossen ist? Denn auch das ist ein Schluss, zu dem der Bericht kommt. Generell ist das Vertrauen in die Demokratie und politische Institutionen im Osten deutlich niedriger als im Westen Deutschlands. "Wir haben da in den neuen Ländern ein strukturelles Problem", sagt Wanderwitz.

Zwar sei die Idee der Demokratie im Wertehorizont der meisten Menschen fest verankert, 88 Prozent der Befragten halten sie für die beste Staatsform für das Land. Allerdings sind die 88 Prozent ein Durchschnittswert für ganz Deutschland. Während im Westen 91 Prozent der Befragten dieser Meinung waren, stimmten dem im Osten nur noch 78 Prozent zu. Wanderwitz bereitet das Sorge, dennoch versucht er zu erklären: Wer in der DDR aufgewachsen sei, einem Unrechtsstaat, der seine Bürger eingesperrt und keine freien Wahlen zugelassen habe, entwickle zwangsläufig eine gewisse Art des Misstrauens gegen die Regierung. Dieses Misstrauen lege man nicht eben schnell ab.

"Was wir besser hätten machen sollen: politische Bildung", sagt Wanderwitz. Man habe von den Menschen erwartet, dass das Demokratieverständnis wie von selbst komme. In diesem Bereich gebe es Nachholbedarf und auch deswegen liege ihm die Außenstelle der Bundeszentrale für politische Bildung, die in Gera entstehen soll, am Herzen. "Ich persönlich glaube aber auch, dass vieles sich in der jüngeren Generation ändert." Wanderwitz war 14 Jahre alt, als die Mauer fiel. Den größten Teil seines Lebens hat er im wiedervereinten Deutschland gelebt. Und dann sei da die nächste Generation. Wanderwitz denkt an seine Kinder. Die kennen nur dieses eine Deutschland.

© SZ vom 17.09.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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