Kolumne: Pipers Welt:Lokführer gegen alle

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An dieser Stelle schreibt jeden zweiten Freitag Nikolaus Piper. Illustration: Bernd Schifferdecker (Foto: N/A)

Die Streiks bei der Deutschen Bahn sind erst einmal aufgeschoben. Trotzdem belastet der Konflikt mit der GDL die Erholung nach der Krise.

Von Nikolaus Piper

Niemandem käme es derzeit in den Sinn, die Deutsche Bahn an die Börse bringen. Frühere Überlegungen, aus dem Staatskonzern eine Aktiengesellschaft mit mehrheitlich privaten Aktionären zu machen, wirken heute, als kämen sie aus einem anderen Zeitalter. Aber gerade in diesen Tagen, da es um die Konsequenzen der Corona-Pandemie geht, lohnt sich ein kleines Gedankenexperiment.

Angenommen, die Bahn wäre tatsächlich privatisiert worden und heute ein ganz normales Dax-Mitglied. Angenommen ferner, die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie hätten die gedachte private Bahn genauso getroffen wie jetzt die reale staatliche. Die Nachfrage wäre dramatisch eingebrochen, die Kunden wären weggeblieben, weil sie Ansteckung fürchteten und im Lockdown sowieso niemanden besuchen wollten. Ein Verlust von sechs Milliarden Euro wäre entstanden, die Schulden wären auf 30 Milliarden Euro gestiegen.

Für ein echtes Privatunternehmen hätte sich, ähnlich wie etwa bei der Lufthansa, die Frage der Existenz gestellt. Was hätte der Vorstand der privaten Bahn AG in so einer Situation getan? Vermutlich das, was andere vorgemacht haben: Gewerkschaften, Banken und Politiker zusammenrufen, um einen Rettungsplan zu entwerfen. Der würde dann von allen Beteiligten Opfer verlangen, von den Arbeitnehmern zum Beispiel die Verschiebung von Lohnerhöhungen in die Zukunft, von den Aktionären einen Kapitalschnitt, von der Politik eine Kapitalspritze. Die Gewerkschaften würden für die Sicherheit der Arbeitsplätze ihrer Mitglieder kämpfen und deshalb Opfern zustimmen.

Hier hört das Gedankenexperiment auf und Claus Weselsky mit seiner Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) betritt die Bühne. Der Vergleich mit einer gedachten privaten Bahn AG macht die ganze Absurdität des Tarifstreits um Gehaltserhöhungen deutlich, den die GDL mitten in einer Krise historischen Ausmaßes vom Zaun gebrochen hat. Er ist so nur in einem Staatsunternehmen denkbar, das nicht pleitegehen kann. Eine Zeit lang sah es sogar so aus, als würden die ersten Züge zu Beginn der Feriensaison bestreikt, in der die Bahn hofft, viele in der Pandemie verlorenen Fahrgäste zurückzugewinnen. Jetzt hat die GDL immerhin auf diese grobe Geschäftsschädigung verzichtet und für Anfang August eine Urabstimmung angekündigt.

Wohl wahr, Streiks in so einer Situation erhöhen den Druck auf die Arbeitgeber. Nur: Wer sind diese Arbeitgeber? Vorstand und Aufsichtsrat der Deutschen Bahn? Natürlich nicht. Es sind die Eigentümer der Bahn, also die Bürger der Bundesrepublik Deutschland, und zwar nicht nur in ihrer Eigenschaft als Steuerzahler und -zahlerinnen. Die Bahn wird dringend gebraucht, damit Deutschland seine Klimaziele erreichen kann, um nur ein Beispiel zu nennen. Ihre Existenz ist aus politischen Gründen gesichert, eine Pleite steht außerhalb jeder Debatte. Aus dieser Position bezieht die GDL erst ihre Macht. Die Lokführer müssen die wirtschaftlichen Folgen von Weselskys Tun kaum fürchten.

Ein besonderes Problem dabei ist die Konkurrenz der Gewerkschaften untereinander. Mit der größeren Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG), die im DGB organisiert ist, hat die Bahn längst einen moderaten Tarifabschluss erzielt. Die GDL wollte den nicht übernehmen, weil das Angebot der Bahn "inakzeptabel" sei, sprich: weil sie sich zutraute, noch mehr zu erstreiken. Auch jenseits der Bahn ist die Konkurrenz von Gewerkschaften in der Tarifpolitik problematisch. Sie kann zu Privilegien bestimmter Berufsgruppen führen oder zu einem unverhältnismäßigen Anstieg der Arbeitskosten. (Eine Randnotiz in eigener Sache: Tarifverträge bei Tageszeitungen handeln auf Arbeitnehmerseite der Deutsche Journalistenverband DJV und die zu Verdi gehörende Deutsche Journalisten-Union meist gemeinsam aus.)

In den USA dagegen wollen manche Beschäftigte gar keine Gewerkschaft

Um die Konkurrenz der Gewerkschaften einzuschränken, hatte die große Koalition 2015 ein Tarifeinheitsgesetz beschlossen. Das Gesetz, von der damaligen Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) entworfen, sieht vor, dass in jedem Betrieb jeweils nur ein Tarifvertrag gilt, und zwar der, den die Gewerkschaft mit den meisten Mitgliedern im Betrieb abgeschlossen hat. Im Falle der Deutschen Bahn hilft das offenkundig nicht viel, denn jetzt hat die GDL noch mehr Anreize, Mitglieder zu werben und darüber zu streiten, in welchem der 300 Betriebe der Bahn welche Gewerkschaft die Mehrheit hat.

Eine radikale Lösung für das Problem gibt es in den USA. Dort müssen in vielen Bundesstaaten die Beschäftigten eines Betriebes darüber abstimmen, ob sie überhaupt eine Gewerkschaft haben wollen. Zur Überraschung deutscher Manager und Betriebsräte lehnte zum Beispiel die Belegschaft des VW-Werks in Chattanouga (Tennessee) dreimal die Zulassung der US-Autogewerkschaft UAW ab. Die UAW ist unter Arbeitern herzlich unbeliebt, weil sie einst maßgeblich zum Niedergang der amerikanischen Autoindustrie beigetragen hatte. Sie hatten sich, Ironie der Geschichte, ein wenig so verhalten wie heute die GDL. Sie setzten Lohnzuschläge durch ohne Rücksicht auf den Rest der Welt. Nur um festzustellen, dass Jobs bei GM, Ford und Chrysler ganz schnell weg sein konnten und dass Japaner und Deutsche billigere und bessere Autos bauten.

Im Vergleich zur UAW gehen deutsche Gewerkschaften in der Regel vergleichsweise rational vor, sieht man einmal von der GDL ab. Der Verzicht auf die Warnstreiks kommende Woche lässt immerhin hoffen, dass auch diese Gewerkschaft ein Sensorium für die öffentliche Meinung hat. Es könnte ja eines Tages doch noch jemand auf die Idee kommen, die Bahn an die Börse zu bringen.

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