Für die 3,5 Milliarden Suchanfragen, die bei Google täglich eingehen, interessieren sich nicht nur Werbekunden, sondern inzwischen auch Strafverfolgungsbehörden. Nach dem Transparenzbericht von Google sind die Auskunftsersuchen zu Nutzerdaten in den USA signifikant angestiegen. Allein im ersten Halbjahr 2017 sind bei Google in den USA 24 000 Auskunftsersuchen eingegangen, darunter 9300 Vorladungen und 5200 Durchsuchungsbefehle. In Deutschland belief sich die Zahl der Ersuchen um Offenlegung von Nutzerdaten im gleichen Zeitraum auf mehr als 7700. "Behörden, Gerichte und Parteien in zivilen Gerichtsverfahren fordern regelmäßig Nutzerdaten bei Technologie- und Telekommunikationsunternehmen an", heißt es bei Google.
Es geht um Fälle wie den Mord an dem damals 16-jährigen Schüler Bailey Gwynne, der die Eliteschule Cults Academy in Aberdeen besuchte und vor zwei Jahren von einem Mitschüler umgebracht wurde. Die beiden hatten sich in der Mittagspause um Kekse gestritten, der Streit war eskaliert. Der Fall ist nicht nur bemerkenswert, weil die Ursache so bestürzend banal war, sondern auch aufgrund seiner Konstellation: Bei der Tatvorbereitung und Aufklärung spielten zwei Technologiekonzerne eine entscheidende Rolle. Der Mörder hatte vor der Tat nach Suchkombinationen wie "Wie wird man jemand Nerviges los" gegoogelt.
Die Suchmaschine spielte in dem Fall eine ambivalente Rolle als Informationsmedium für einen Straftäter sowie als Aufklärungswerkzeug für die Polizei. Die Kriminalisten konnten aus dem Suchverlauf ein relativ genaues Tatmotiv ermitteln.
Schon häufiger wurden Täter aufgrund von Google-Suchen überführt. Im Jahr 2004 erschoss die Rechtsanwältin Melanie McGuire ihren Ehemann, nachdem sie Tage zuvor nach Mordanleitungen und Giftdosen auf Google gesucht hatte. Auch der Germanwings-Copilot Andreas L. googelte vor dem gezielt herbeigeführten Absturz des Flugzeugs nach Suizidmöglichkeiten.
Digitale Privatsphäre:"Alexa, spionierst du mich aus?"
Viele halten smarte Lautsprecher für Wanzen im Wohnzimmer. Das zeichnen Amazon Echo und Google Home wirklich auf.
Google legt je nach Art des Ersuchens - Vorladung, gerichtliche Verfügung oder Durchsuchungsbefehl - für seine Produkte Informationen in verschiedenem Umfang offen. Bei einer gerichtlichen Verfügung von Gmail leitet Google nach eigenen Angaben Metadaten (etwa Informationen im Header einer E-Mail) an die Behörden weiter, bei einem Durchsuchungsbefehl sogar E-Mail-Inhalte.
Was geschah zur Tatzeit? Gab es Schreie des Opfers?
"Unser Ziel ist es, umfassende Daten zu allen behördlichen Auskunftsersuchen zu Nutzerdaten bereitzustellen", teilt Google in seiner Transparency-Report-Hilfe mit. Dazu gehören auch "Ersuchen im Rahmen strafrechtlicher Ermittlungen und zu Fragen der nationalen Sicherheit". "Wir können zwar nicht garantieren, dass die Daten völlig fehlerfrei sind, aber wir verbessern unsere internen Verfahren kontinuierlich, damit die Berichte zeitnah und präzise sind."
Die Dienste von Tech-Konzernen spielen bei der Aufklärung von Kriminalfällen eine immer wichtigere Rolle. Die Polizei in Arkansas verlangte in einem Mordfall von Amazon die Herausgabe von Audiodateien seines Netzwerklautsprechers Echo - und wollte Alexa in den Zeugenstand rufen. Der smarte Lautsprecher hört laufend mit und könnte wichtige Angaben zur Klärung des vertrackten Mordfalls beitragen. Was geschah zur Tatzeit? Gab es Schreie des Opfers? Amazon gab die Daten nach langem Hin und Her schließlich heraus.
Die Frage ist, ob es rechtsstaatlich oder rechtspolitisch legitim ist, dass sich Tech-Konzerne in Strafverfolgungsprozesse einschalten und als eine Art Hilfssheriff gerieren. Der Hamburger Kriminologe Nils Zurawski befürchtet eine Vermengung von staatlichen und privaten Interessen durch die Kooperation von Tech-Konzernen und Strafverfolgungsbehörden. Im Interview sagt er: "Da Google und auch andere digitale Medien und Dienste zu unserem Alltag gehören, und wir allerlei Dinge damit tun, wäre die generelle Auskunft über unsere Aktivitäten eine Totalüberwachung. Das ist praktisch schon der Fall, wenn man bedenkt, dass alles, was wir tun, in irgendeiner Weise aufgezeichnet wird."
Nun aber Google als "Auskunftei des Staates" zu haben, verschiebe die Grenzen zwischen besonderen Sphären des Lebens, zwischen Rechtsgütern wie Unschuldsvermutung, das Recht auf Privatsphäre, Recht auf Vergessen, Recht auf Anonymität in bestimmten Kontexten. Die Vermischung von Alltag und staatlichen Repressionsbehörden sei "hoch problematisch".
Eine solche Vermischung würde das Rechtsstaatlichkeitsprinzip aushebeln, kritisiert Zurawski. "Das wäre in der Tat eine Stasi 2.0 oder eher 4.0, denn dann wäre der Informant eingewoben in unseren Alltag, und dann gälte es tatsächlich zu überlegen, was wir suchen, machen, regeln oder mit wem wir das tun." Der Konsum wäre gleichbedeutend mit der Überwachung, so Zurawski. Ein Mittel der Prävention, mit dem man nicht nur ex post, nach der Tat, sondern auch ex ante, also vor einer möglichen Tat, überprüfen könne, wie sich Menschen benehmen. "Es wäre unverhältnismäßig, aber wohl kaum aufzuhalten. Man würde quasi beständig Zeugenschaft geben, ohne es zu müssen. Ohne Rechte, ohne Verzichte, ohne die Möglichkeit, sich zu verweigern." Im Falle schwerer Straftaten sei es legitim, Browserverläufe oder Gewohnheiten zu kontrollieren, konstatiert der Kriminologe, aber nur auf richterliche Anordnung. "Wenn ohnehin alles gespeichert und willfährig abgegeben wird, dann gibt es diese Verhältnismäßigkeit und damit verbundene Rechte nicht mehr."
"Sind Suchvorgänge allein bereits kriminelles Verhalten?"
Der ehemalige Google-Chef Eric Schmidt sagte einmal: "Wenn es etwas gibt, von dem Sie nicht wollen, dass es irgendjemand erfährt, sollten Sie es vielleicht ohnehin nicht tun." Googles alten Wahlspruch "Don't be evil" kann man auch als Aufforderung zur Nichteinmischung verstehen. Die Banalität des "Sei nicht böse" besteht darin, dass das massenhafte Anlegen von Persönlichkeitsprofilen als ein bürokratischer Akt erscheint und die Nutzer bei dieser Datensammelei mitmachen, als sei sie das Natürlichste der Welt. In der Suchmaschine wird jeder zum informellen Mitarbeiter, der Informationen über sich und seine Bekannten preisgibt und im Gegenzug Informationen über den Kollegen erhält.
Das (fiktive) Aktivitätenprotokoll auf Google - 18.05 Uhr: gesucht nach Escort-Frauen Berlin, 18.07 Uhr: aufgerufen Erklärvideo Kettensäge - liest sich wie eine geheime Stasi-Akte. Zwar lassen sich die Einträge löschen, doch weiß man nicht, ob vielleicht doch irgendwo ein Duplikat gespeichert wurde. Erschreckend ist die Detailliertheit dieser Akten.
Sind Suchanfragen wirklich nur Informationsabfragen? Oder steht jede Google-Aktivität unter dem Vorbehalt einer möglichen späteren strafprozessualen Verwendbarkeit? Etwas zugespitzt: Dürfen Google-Suchen jemanden belasten? "Zeugenaussagen sollen eine Wirklichkeit unterstützen, für Aufklärung sorgen", betont Wissenschaftler Zurawski. Die Frage sei jedoch, welche Art von Realität und Wirklichkeit die von Google aufgezeichneten Daten erzeugen. "Sind es Indizien, Hinweise auf etwas, das so oder anders hätte passiert sein können? Sind Suchvorgänge allein bereits kriminelles Verhalten oder eine Vorstufe davon? Was sagen sie über eine Situation aus? Wie sind die Beziehungen von Suchvorgängen, die man auch als ausgelagerte Gedanken begreifen könnte, als inneren Dialog, als Orientierung?"
Die spannende Frage aus juristischer Sicht ist, ob eine Google-Suche nach "Wie vergifte ich meine Frau?" als eine straflose Vorbereitungshandlung oder ein strafbarer Versuch zu qualifizieren wäre. Damit würde man die Hürde zu einem Orwell'schen Gedankenverbrechen senken und Menschen für das bestrafen, was sie denken, obwohl es nie zur Ausführung kommt. Zurawski glaubt, dass die Frage nach Wirklichkeit und erzeugter Realität durch ein "Mash-up von Daten und Fantasien" darüber, wie man etwas haben will, wichtig werde, wenn es darum geht, Google als Zeugen zu nutzen. Kommissar Google führt jedenfalls fleißig Protokoll.